Am 5. Jänner 2023 legte die SPÖ bei ihrer Neujahrsklausur der Öffentlichkeit ein 5-Punkte-Aktionsprogramm vor (https://www.spoe.at/2023/01/05/rendi-wagner-spoe-legt-5-punkte-aktionsprogramm-fuer-2023-vor/). Darin heißt es:
- Preise senken. Teuerungsstopp bei Lebensmitteln und Mieten.
- Energiewende schaffen: Sozial verträglich und mit Chancen.
- Gesundheitssystem stärken. Versorgungssicherheit für alle Menschen im Land garantieren.
- Bildung ausbauen. Mehr Kinderbetreuung und Ganztagsschulen für eine starke Bildung.
- Kooperationen schmieden, Allianzen schließen. Vernünftige Lösungen in der Migrationspolitik.
Bemerkenswert bei der Klausur: ein Landesparteiobmann fehlte – Hans Peter Doskozil, der seit Jahren immer wieder die Autorität der Parteivorsitzenden Pamela Rendi-Wagner (PRW) herausgefordert hatte.
Mit den 5 Punkten versuchte sich die SPÖ klar sowohl von den Regierungsparteien ÖVP und Grüne als auch von der FPÖ abzugrenzen. Als bürgerliche Arbeiter*innenpartei hat es die Sozialdemokratie schwer. Sie muss den Spagat schaffen, politische Ziele im Rahmen des Kapitalismus zu formulieren, die das herrschende Gesellschaftssystem nicht infrage stellen. Zugleich aber muss sie der traditionellen sozialen Basis der Partei – mehrheitlich Lohnabhängige und zunehmend Pensionist*innen – das Gefühl vermitteln, sie sei „ihre Partei“, die der sozial Schwächeren.
(Zur bürgerlichen Arbeiter*innenpartei – siehe den Kasten in diesem Artikel!)
Die SPÖ im Jammertal: Opposition ohne Visionen
Als 2017 Sebastian Kurz und seine Mannschaft unter dem Codenamen „Operation Ballhausplatz“, gestützt auf die mächtige niederösterreichische Landesorganisation und mit tatkräftiger Unterstützung der willfährigen Presse, die Macht in der ÖVP an sich riss und als allererstes den zu weichen Großkoalitionär Reinhold Mitterlehner aus dem Weg räumte, bahnte sich das Ende der stagnativen SPÖ-Regierungsbeteiligungen an. Zügig bootete Kurz Kern aus und koalierte mit der Strache-FPÖ – Herbert Kickl als Innenminister war ein Garant, dass jetzt bald ein anderer Wind wehen würde.
Offensichtlich war die SPÖ-Spitze von der Schnelligkeit und taktisch gut vorbereiteten Brutalität der neuen Regierung völlig überrollt. Hatte es 2000 Massenproteste gegen Schüssel-Haider mit Beteiligung der SPÖ gegeben, herrschte 2018 Lähmung. Kern zog sich – auf die Spitzenkandidatur für die SPÖ bei den EU-Wahlen hoffend – aus der Innenpolitik zurück und übergab die Partei seiner ehemaligen Gesundheitsministerin Pamela Rendi-Wagner, die im November 2018 beim 44. Parteitag mit rund 98% der Stimmen zur Parteivorsitzenden gewählt wurde. Das Ergebnis war nicht unbedingt ein Zeichen der Liebe – hinter vorgehaltener Hand wurde darüber gespöttelt, dass die Medizinerin ja erst ein paar Tage vor ihrer überraschenden Berufung ins Ministeramt der Partei beigetreten war. Eher war es Verzweiflung, die das gute Abschneiden am Parteitag auslöste – keiner der prominenteren Exponenten der Partei wollte die undankbare Aufgabe übernehmen, die Partei oppositionstauglich zu machen.
Profiliert hatte sich die SP-Vorsitzende in ihrem Kernbereich Gesundheitspolitik mit der Initiative für Rauchverbote in der Gastronomie. Als Oppositionsführerin blieb sie blässlich. Das ist aber nicht PRW als persönliche Schwäche anzulasten. Eine Partei, die sich sozial nennt, aber über ein offen bürgerliches Programm verfügt, die sich seit Jahrzehnten auf den sozialpartnerschaftlichen Kurs einer mit der herrschenden Klasse und deren Verbänden akkordierten Politik der Zusammenarbeit festgelegt hat, kann nicht von einem Tag auf den anderen in den Kampfmodus der Opposition gebracht werden. Vor allem: für diesen Modus bräuchte man den Willen zum Kampf! Und der fehlt an der Parteispitze definitiv.
Dementsprechend konnte die SPÖ nicht einmal die aufgelegten Elfmeter im innenpolitischen Match verwandeln. Die Empörung über den Angriff auf die Tagesarbeitszeit ließ der SP-dominierte ÖGB verpuffen; gegen die reaktionäre und repressive Politik des blauen Innenministers Herbert Kickl brachte die Partei keine Protestbewegung zustande – im Gegenteil, der burgenländische Ex-Kieberer Hans Peter Doskozil brummte leise Zustimmung. Auch den Ibiza-Skandal samt Folgen konnte die SPÖ-Spitze nicht nutzen.
Statt als Schutzwall gegen die FPÖ, die sich gerne als „soziale Heimatpartei“ darstellt, ein klares soziales Aktionsprogramm aufzustellen – für Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich, kompromisslose Verteidigung der sozialen Errungenschaften, Widerstand gegen die Zerschlagung der Sozialversicherungsstrukturen – sprang die SPÖ-Bürokratie auf den Zug der Ausländerfeindlichkeit auf und versuchte so der immer faschistoider agierenden FPÖ das Wasser abzugraben.
Gemeinsame Basis der gesamten SPÖ in der „Ausländerfrage“ ist das 2018 beschlossene „Kaiser-Doskozil-Papier“, das nichts anderes besagt als: auch die Sozialdemokrat*innen wollen alle Fluchtrouten stopfen, den Zugang für Asylwerbende möglichst verhindern, die Festung Europa polizeilich-militärisch absichern und die Abschiebepraxis der jetzigen Regierung effizienter und reibungsloser gestalten. „Integration vor Zuzug“ und „europäische Migrationsstrategie mit einem System von Arbeitsvisa für Länder, die in der Frage der Rückführung kooperieren“ sind Floskeln, mit denen bemäntelt werden soll, dass die Niederlassungsfreiheit für Menschen, die auf der Suche nach einer halbwegs würdigen und sicheren Existenz sind, ungültig ist. „Integration vor Zuzug“ war schon 1999 eine Parole unter SPÖ-Innenminister Löschnak!
Als im Mai 2019 die türkis-blaue Koalition nach dem Ibiza-Skandal auseinander fiel, konnte die SPÖ nicht nur nicht davon profitieren, sie erzielte mit 21,2% der Stimmen bei den Neuwahlen im September des gleichen Jahres ihr historisch schlechtestes Ergebnis. Die skandalgebeutelten Freiheitlichen kamen immerhin noch auf 16,2 % der Stimmen.
Vor Beginn der Corona-Krise 2020 hatte sich der Unmut in bestimmten Schichten der Lohnabhängigen massiv aufgestaut und im Sozialbereich in einer Reihe von Betriebsversammlungen, bis hin zu Streiks und Besetzungen, Luft gemacht. Für die türkis-grüne Regierung kam die Pandemie wie gerufen und sie nutzte die reale Gefährdung durch das Virus, um zu testen, wie weit sie mit Notverordnungen und administrativen Maßnahmen gehen konnte.
SPÖ und ÖGB standen wieder einmal wie paralysiert vor der Regierung, die jede Gelegenheit nutzte, um ihre reaktionäre Agenda durchzuziehen. Die Illusionen kleinbürgerlicher Schichten, dass die Grünen die Kurz-Partei „bändigen“ würden, hatten sich von Haus aus zerschlagen. Der ÖGB übte sich angesichts der „Herausforderungen für die Wirtschaft“ wieder einmal in nobler Zurückhaltung bei Kollektivvertragsverhandlungen und sonstigen sozialen Debatten – die in der Sozialwirtschaft vehement geforderte massive Arbeitszeitverkürzung war damit wieder einmal vom Tisch (die Beschäftigten wurden mit der 37,5 Stunden-Woche abgespeist!). Statt auf die steigenden Arbeitslosenzahlen mit einer generellen Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung – unabhängig vom Pandemierverlauf! – zu kontern, stiegen die Sozialdemokrat*innen auf die Diskussion um diverse „Vergütungen“, „Zuschüsse“ und „Belohnungen“ ein, die letzten Endes wieder dem Kapital zugutekamen.
Prinzipienloses Gezerre in der SPÖ
Angesichts der Pandemie und ihrer Folgen blieb die SPÖ weiterhin handlungsunfähig und präsentierte sich in der Öffentlichkeit gespalten. Während die Wiener SPÖ einen sehr rigiden Kurs befürwortete– Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln, Impfpflicht, Aktion „Alles gurgelt“ zur Sicherstellung umfassender PCR-Testungen … – sprach sich die burgenländische SPÖ Anfang 2021 für die Öffnung der Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe und der Thermen aus. Die Kärntner SPÖ wiederum schlug bis Ende 2022 eine Beibehaltung von Quarantäne- und Absonderungsmaßnahmen vor.
Demgegenüber tat sich die FPÖ leicht – skrupellos griff sie mit populistischen Parolen alle Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie an, verteidigte esoterische und unwissenschaftliche Positionen („auch nur eine Grippe…“, „tausende Opfer von Impfschäden“ etc.) und konnte so die von Faschist*innen und Esoteriker*innen befeuerten „Anti-Corona“-Demonstrationen für sich instrumentalisieren. Dass bei diesen Mobilisierungen immer öfter ausländerfeindliche Parolen auf die Spitzentransparente der Organisator*innen rutschten, genierte Herbert Kickl und seine Parteikamerad*innen nicht.
Die burgenländische Landespartei hatte sich schon zu Kerns Zeiten immer wieder gegen die Bundespartei gestellt. Besonderes Merkmal neben scharfen persönlichen Angriffen („Eitelkeiten“ Kerns hätten der Partei geschadet) war die Offenheit gegenüber den bürgerlichen Parteien, also nicht nur gegenüber der FPÖ. Im September 2018 erklärte Doskozil in einem Interview mit der „Kleinen Zeitung“ zur „Flüchtlingspolitik“ Sebastian Kurz’: „Auch er hat einen pragmatischen Zugang in dieser Frage. Unsere Positionen decken sich nicht zu hundert Prozent“ – aber er sehe Kurz nicht als Feind. Im Dezember des gleichen Jahres forderte er „konstruktive Oppositionsarbeit statt Frontal-Opposition“, drei Monate später, im Februar 2019, unterstützte er Kickls Vorstoß für die „Sicherungshaft“ (PRW fand das „wenig hilfreich“, Doskozil replizierte, man dürfe da „nicht so empfindlich“ sein). Der innerparteiliche Hickhack setzte sich über die Jahre fort, PRW sprach gar von „Heckenschützenangriffen“. Am 14. März 2023 gab Doskozil schließlich bekannt, dass er sich um den Parteivorsitz bewerben würde. Im Parteivorstand beschloss man daraufhin eine „Mitgliederbefragung“ zwischen dem 24. April und dem 10. Mai. Statutengemäß wird aber erst ein (Sonder)Parteitag am 3. Juni in Linz die Entscheidung bringen.
Am 21. März präsentierte sich überraschend ein weiterer Kandidat für den Parteivorsitz – Nikolaus Kowall, Vorsitzender der SPÖ Alsergrund, ein bekannter Sprecher der Wiener Parteilinken. Zwei Tage später zog er seine Bewerbung zurück, denn der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler war in den Ring gestiegen.
Mit Andreas Babler kandidiert ein spätestens seit den niederösterreichischen Landtagswahlen bundesweit bekannter SPÖ-Kommunalpolitiker. Mit 46,6% der Wählerstimmen fuhr er ein Wahlergebnis ein, von dem die niederösterreichische, geschweige denn die Bundes-SPÖ, nur träumen kann. Und das in einer Stadt, die aufgrund der dort angesiedelten Bundesbetreuungsstelle für Asylwerber*innen von bürgerlichen und faschistischen Parteien und Gruppen immer wieder als „Hotspot“ des „Asylantenproblems“ verkauft wird. Die Identitären haben dort wiederholt provokante Auftritte inszeniert, sekundiert von der Boulevardpresse, die regelmäßig Schauergeschichten von undankbaren Asylwerber*innen verbreitet, welche die Gegend um den Bahnhof unsicher machten.
Babler ist seit 1989 in der SP beziehungsweise ihren Jugendorganisation aktiv. Er war Vorsitzender der niederösterreichischen SJ und gehörte dem „Stamokap“-Flügel an, der analytisch etliche Positionen mit der KPÖ teilte, wie sie etwa heute von deren steirischer Landesorganisation vertreten werden. 2014 wurde er mit einem sensationellen Ergebnis von über 73% der abgegebenen Stimmen zum Bürgermeister Traiskichens gewählt.
In der Folge zeigte er, dass man (ähnlich wie die Grazer KPÖ) mit einer reformistischen Politik der angeblichen „sozialen Heimatpartei“ das Wasser abgraben kann: So beschloss der Traiskirchner Gemeinderat einen Mietenstopp für Gemeindewohnungen, in der Kinderbetreuung wurden unter anderem mit dem Kinderabenteuerlabor neue, innovative Wege beschritten. Zugleich bekennt sich Babler offensiv zum Menschenrecht auf Asyl.
Der Sammlungskandidat der Linken war 2016 nach Angriffen der FPÖ ins Gerede gekommen, weil er neben seinem Bürgermeisterbezug auch noch ein Gehalt der Stadt als Mitarbeiter der „Stabsstelle“ der Gemeinde bezog – in Summe ein Bruttobezug von 11.300 EUR im Monat. Das ist natürlich deutlich über dem durchschnittlichen Facharbeiter*innenlohn in Österreich (median: 2.486,–), den Revolutionär*innen politischen Funktionsträgern zugestehen. Diese Angelegenheit wurde nicht nur von den bürgerlichen Parteien und den Medien, sondern auch parteiintern gegen Babler ausgespielt (zwei Jahre später übrigens wurde Rendi-Wagner im „profil“ vorgeworfen, gut eineinhalb Jahre die „Parteisteuer“ von insgesamt rund 13.000,– EUR trotz Mahnungen nicht bezahlt zu haben – sie beglich ihre Schulden danach umgehend).
Die Dreifaltigkeit der bürgerlichen Arbeiter*innenpartei
Was verbindet die drei Kandidat*innen nun und was trennt sie voneinander? Ein bisschen erinnert die derzeitige Diskussion an das christliche Konzil von Nicäa (325 n.d.Z.), als sich die Kirchenväter darauf einigten, die Einigkeit Gottes in drei Personen festzuschreiben. Auch Rendi-Wagner, Doskozil und Babler sind drei Inkarnationen des Einen – nämlich der bürgerlichen Arbeiter*innenpartei SPÖ.
Rendi-Wagner präsentiert für die Mitgliederbefragung kein Programm – sie sagt, als Parteivorsitzende vertrete sie ohnehin das Programm der Partei insgesamt, mehr habe sie nicht zu sagen.
Alle drei Bewerber*innen stehen hinter den „5 Punkten“ der Neujahrsklausur, wobei die Akzente unterschiedlich gesetzt werden. Als Faustregel lässt sich sagen: In ihrer jeweiligen „Einflusssphäre“ haben die Kandidaten verschiedene Forderungen umgesetzt, die sich im Programm der bürgerlichen Arbeiterpartei finden. So wie Babler in Traiskirchen hat Doskozil im Burgenland die Mietpreise in den von der öffentlichen Hand errichteten Wohnungen für zwei Jahre gedeckelt; zum Vergleich – die Stadt Wien unter PRW-Unterstützer Michael Ludwig hat das nicht getan.
Einig sind sich alle drei Kandidat*innen bei der Forderung, die Armut, speziell die Kinderarmut, zu bekämpfen. Auch hier haben Doskozil und Babler praktische Maßnahmen ergriffen – kostenlose Kindergartenplätze seit 2019 und Essensförderung in den Kindergärten für sozial schwächere Familien. In Traiskirchen (die niederösterreichischen Landeskindergärten sind seit Langem gratis) hat die Gemeinde unter Bürgermeister Babler sowohl Förderungen für das Essensgeld in Kindergärten und Schulen als auch die kostenlose Nachmittagsbetreuung beschlossen. Ebenso gibt es bei Freizeiteinrichtungen für Kinder entweder einen Preisstopp oder Gratisleistungen für einkommensschwache Eltern. Rendi-Wagner, die keine praktische Umsetzungsmöglichkeit hat, thematisiert aber sowohl Kinder- als auch Erwachsenenarmut bei Veranstaltungen, in Ausssendungen und in Parlamentsreden.
Dass Armut ursächlich mit Arbeitslosigkeit und Löhnen zusammenhängt, ist eine recht banale Feststellung. Hier gibt es aber wesentliche Unterschiede.
PRW hat zuletzt im NRW-Wahlkampf 2019 ihre Position klargestellt: wie die Mehrheit der Parteifunktionäre fordert sie einen Mindestlohn von 1.700 EUR. Hans Peter Doskozil geht mit seinen Forderungen weiter: 2.000,– EUR stehen bei ihm im Programm. Umgesetzt hat er das ansatzweise im Burgenland, aber nur für Landesbedienstete. Und, ganz wesentlich: Für Doskozil ist Arbeitszeitverkürzung, wenn überhaupt, nur ein sehr marginales Thema. Angesprochen auf die 4-Tages-Woche, antwortet er: „Zuerst den Mindestlohn, danach können wir über alles reden“.
Demgegenüber propagiert Babler eine Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich. In Interviews erklärt er, dass ein Mindestlohn durchaus anzustreben ist, aber nur gemeinsam mit der Gewerkschaft und nicht auf „Gesetzesweg“. Prinzipiell ein richtiger Ansatz: gesetzliche Mindestlöhne bedeuten immer einen Eingriff in das Recht der Gewerkschaften, Kollektivverträge auszuhandeln. Das heißt auch, dass die Gewerkschaftsbasis beim Kampf um den Mindestlohn weniger Rolle spielen soll. Nun ist Babler aber keineswegs der Radikale, als den ihn die Medien und manche Wirtschaftskammer- und Industrievertreter*innen hinstellen. Er unterstreicht ständig, dass für ihn Sozialpartnerverhandlungen den Weg zum Ziel bahnen sollen. Zum Thema „Demokratie in den Gewerkschaften“ hat er sich wohl aus gutem Grund nicht geäußert.
Armut und Löhne – da spielt natürlich heute mehr denn je die Inflation eine Rolle. Doskozil und Babler setzen hier, jeweils mit unterschiedlicher Intensität, auf staatliche Eingriffe. Sowohl ein Mietzins- als auch ein Gaspreisdeckel sind Forderungen, die eine kurzfristige wirtschaftliche Atempause schaffen können – solange die grundlegende Frage nach den Eigentumsrechten am Wohnraum und an Energie- und Infrastrukturbereichen nicht berührt wird, sind wirkliche Lösungen aber unmöglich. Im 5-Punkte-Aktionsprogramm der SPÖ werden neue staatliche Beratungsgremien zur Preisfestsetzung gefordert. Weder Doskozil noch Babler gehen über diese Vorstellungen hinaus.
So, wie eine gleitende Arbeitszeitskala notwendig ist, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, ist eine gleitende Lohnskala nötig, mit der die Löhne automatisch an die Teuerung angepasst werden. Flankierend bedarf es dazu proletarischer Preiskontrollkomitees, in denen die Betroffenen selbst – Lohnabhängige, Arbeitslose, Jugendliche, Pensionist*innen … die Teuerung anhand ihrer realen Lebensverhältnisse messen und auf dieser Grundlage die wirkliche Teuerung errechnet wird. Ebenso müssen die Geschäftsbücher der Konzerne in Produktion, Handel und Dienstleistungen offengelegt werden, um die Profite der Kapitalist*innenklasse feststellen und eine Umverteilung einleiten zu können. Konkret wird es darum gehen, in Schlüsselbereichen der Wirtschaft Enteignungen unter Arbeiter*innenkontrolle zu fordern, um die Grundversorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln, Medikamenten, Energie etc. sicherstellen zu können.
Der zentrale Differenzpunkt, der sowohl in den bürgerlichen Medien als auch in der SPÖ selbst am heftigsten diskutiert wird, ist das Verhältnis der Kandidat*innen zur FPÖ. Für uns geht es hier aber um mehr – es geht um die prinzipielle Haltung der bürgerlichen Arbeiter*innenpartei zu den traditionellen bürgerlichen Parteien, aber auch zu deren „neueren“ Ablegern wie NEOS oder Grüne.
Gekoppelt wird diese Frage in der Regel mit dem Thema Migration (seien es Geflüchtete oder Arbeitsmigrant*innen). Die FPÖ hat ja dieses „Marktsegment“ mit der Handelsmarke „Ausländerfeindlichkeit und dumpfer Nationalismus“ lange erfolgreich monopolisiert, bis die ÖVP zunächst unter “Balkanroutenschließer” Kurz und dann unter Karl Nehammer und Gerald Karner, sekundiert von Laura Sachslehner, gezeigt hat, dass sie auf diesem Gebiet einiges dazugelernt hat und teilweise sogar auf der Überholspur unterwegs ist.
Auch in der Politik spielt Psychologie eine Rolle, daher ist man bei Hans Peter Doskozil geneigt, an die alte Volksweisheit „Ein Kieberer ist kein Hawara“ zu denken. Als gelernter Polizist ist ihm die gesetzestreue Umsetzung von staatlichen Regeln in die DNA implantiert worden. Wo die Medizinerin Rendi-Wagner humanitäre Regungen zeigt, ist „Dosko“ für Härte. Seine Visionen sind ja immerhin ins Kaiser-Doskozil-Papier eingeflossen, und da ist alles drinnen, was man zur Verteidigung der „Festung Europa“ braucht: Asylansuchen an der EU-Außengrenze, ein verstärkter und finanziell höher dotierter „Schutz“ dieser Grenzen, ein Festhalten an den bestehenden Kriterien für die Erlangung der Staatsbürgerschaft.
Andreas Babler kann hier in der Öffentlichkeit rhetorisch punkten. Aber: In seinem Programm, abrufbar auf seiner Homepage, findet sich kein Kapitel zu diesem Thema. In Interviews tritt Babler für schnellere und unkompliziertere Einbürgerungen ein – das ist ehrenwert, aber warum wird diese Forderung nicht auch im Programm für den Parteivorsitz erhoben? Soll hier die Konfrontation in einer gesellschaftlich umstrittenen Frage vermieden werden?
Doskozil hat seit 2018 unterschiedliche Signale gesendet – für ihn waren abwechselnd Koalitionen mit der ÖVP denkbar („Man muss ja mit Kurz nicht unbedingt auf Urlaub fahren, sachlich können wir aber miteinander“), dann wieder mit der FPÖ (mit der er im Burgenland eine in der Öffentlichkeit selbst gelobte gemeinsame Regierung gebildet hat). Eine Koalition „mit der Kickl-FPÖ“ ist für ihn derzeit ein No-Go. Hmm… wie hätten wir’s den gern? Mit einer Schnedlitz-FPÖ? Oder einer Landbauer-FPÖ? Man erinnere sich an das Kabinett Schüssel-I, in dem aus gutem Grund Jörg Haider kein Amt inne hatte, aber natürlich im Hintergrund die Fäden gezogen hat. Ungefähr so klingt Doskozils Absage an die „Kickl-FPÖ“.
Klarer nimmt hier Babler Stellung: Er lehnt aufgrund der offensichtlichen politischen Gegenstandpunkte eine Koalition mit ÖVP und FPÖ ab. Stattdessen präferiert er eine „Ampelkoalition“ mit NEOS und Grünen oder, je nach Wahlergebnis, mit einer der beiden kleineren (klein)bürgerlichen Parteien. Damit bewegt er sich auf dem sicheren Terrain der bürgerlichen Arbeiter*innenpartei, die damit klar signalisiert: Wir haben nichts gegen eine vernünftige Klassenzusammenarbeit.
„Mit uns zieht die neue Zeit“?
Die SPÖ-Mitgliederbefragung hat einiges in Bewegung gebracht. Menschen, die sich bisher aus der organisierten Politik herausgehalten haben, sind in die Partei eingetreten, um über den Parteivorsitz mitentscheiden zu können. Vor allem bekannte „linke Intellektuelle“ sind (wieder) in die SPÖ eingetreten, wie Natascha Strobl oder Robert Menasse. Für sie ist die Babler-Kandidatur so etwas wie ein Weckruf längst vergessener Traditionen der Sozialdemokratie, ein Turboboost für Solidarität und Mitbestimmung in der Partei.
Wir können diesen Optimismus nicht teilen und orientieren uns auch nicht an dieser Schicht. Ebensowenig raten wir – wie das „Der Funke“ tut – dazu, in die SPÖ einzutreten, um das Babler-Lager zu stärken. Positiv an der jetzigen Entwicklung: durch Bablers Kandidatur werden in einem breiteren Umfang als in Jahrzehnten zuvor klassenpolitisch relevante Themen angesprochen. Auch das Vokabular wird deutlich kämpferischer, die SPÖ wird zumindest von Teilen ihrer Mitgliedschaft wieder als Arbeiter*innenpartei wahrgenommen. Die ungewollte Demokratisierung in Form der Mitgliederbefragung öffnet Diskussionsmöglichkeiten, die über Jahrzehnte abgeblockt wurden.
Auf Bablers Homepage heißt es:
„Systemfragen stellen / Immer mehr Menschen wissen nicht, ob sie mit dem Geld, das bleibt, Essen kochen oder heizen sollen. Jetzt ist nicht mehr die Zeit zu beruhigen. Es ist an der Zeit, Systemfragen zu stellen. Wir brauchen neue Spielregeln für Wirtschaft und Gesellschaft. Das System muss für alle funktionieren“
Ja, stellen wir die Systemfrage – aber geben wir auch eine Antwort, die über Allgemeinplätze wie „wir brauchen neue Spielregeln…“ hinausgehen. Vor allem: Seien wir doch ehrlich, dieses System kann nicht für alle funktionieren! Dieses System muss beseitigt werden. Es muss durch ein demokratisch geplantes Wirtschaftssystem ersetzt werden, das von den Arbeiterinnen und Arbeitern und ihren direkt gewählten und jederzeit abwählbaren Räten gelenkt wird.
Die Sozialdemokratie behauptet jetzt seit über hundert Jahren mit abnehmender Intensität, den Kapitalismus gerechter, menschlicher, friedlicher, ökologischer zu machen. Nirgendwo hat diese Politik zu einer nachhaltigen Veränderung des kapitalistischen Profitsystems geführt. Im Gegenteil – die enttäuschten Hoffnungen der Massen haben weltweit den Aufstieg reaktionärer und faschistischer Bewegungen begünstigt.
Alle Genoss*innen, die jetzt versuchen, die Sozialdemokratie auf einen sozialistischen Kurs zu bringen, sollten immer wieder Bilanz über die Fortschritte ihrer Politik ziehen. Sie sollten vor allem überlegen, wie sie reagieren, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden. Die schlechteste Antwort wäre der Rückzug aus der Politik, die enttäuschte Rückkehr ins Private. Aufgrund unserer Erfahrungen und der Lehren aus der Geschichte haben wir als Gruppe KLASSENKAMPF einen anderen Weg gewählt – den Kurs auf den Aufbau einer revolutionären Arbeiter*innenpartei und einer revolutionären Arbeiter*inneninternationale. Der Verlauf der bevorstehenden Klassenkämpfe wird zeigen, welcher Weg der richtige ist.