Brasilien: Die Krise vom Juni 2013 und ihre Auswirkungen bis zum heutigen Tag

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Eine Erklärung der Tendência Marxista-Leninista (Brasilien)

Der sogenannte „Feldzug des Juni 2013“ ging aus einer studentischen Bewegung hervor, durch die Initiative für Freifahrscheine (Movimento Passe Libre), die alle Jahre um die ein- bis zweitausend Jugendliche mobilisierte.

Jedoch gab es im Jahr 2013 eine starke Repression der PSDB-Provinzregierung (Partido da Social Democracia Brasileira, Partei der brasilianischen Sozialdemokratie, mitte-rechts) von Sao Paulo unter Geraldo Alckmin, der auf die Unterstützung des PT-Bürgermeisters (Partido dos Trabalhadores, Partei der Arbeiter, gemäßigt links) Fernando Haddad zählen konnte.

Die Bewegung wurde von den bürgerlichen Medien scharf attackiert, die Studenten als Aufwiegler und Vandalen bezeichnet, insbesondere der Schwarze Block.

Ausgehend von der Unterdrückung nahm die Bewegung immer größere Ausmaße an, tausende Demonstranten gingen auf die Straßen gegen die Provinz- und Stadtregierungen, und später gegen die Bundesregierung der Präsidentin Dilma Rousseff von der PT.

Die Bourgeoisie und die großen Medien, welche die Bewegung attackierten, änderten ihre Richtung und gingen dazu über, sich ihr anzubiedern und sie sogar zu lenken, indem sie die Mittelklasse und das Kleinbürgertum insbesondere gegen die PT mobilisierten.

So nahm die Bewegung eine reaktionäre Richtung, weil sie von einer bürgerlichen und proimperialistischen Führung gekapert wurde, und wurde zur Bewegung für die Amtsenthebung, für den Staatsstreich gegen Präsidentin Dilma von der PT.

Das Bürgertum und der Imperialismus hissten die alten Fahnen aus der Zeit der UDN (Unión Democrática Nacional, Nationale Demokratische Union, rechts, antikommunistisch) von Carlos Lacerda gegen Getúilo und gegen Joao Goulart, als wäre es etwas Neues: Kampf gegen Korruption, McCarthyismus, Liberalismus, Strafjustiz, etc.

So beklagten sie überhöhte Rechnungen bei den Stadionarbeiten für die Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Spiele 2014 und 2016, wobei sie auch die brasilianischen Vertragsunternehmen angriffen.

Das ging ursprünglich auf den „Proceso del Mensalao“ (Bestechungsgeldprozess) im Obersten Bundesgericht der Putschisten, und seiner Weiterentwicklung, der Operation Lava Jato (Operation Waschanlage), beide von der CIA konzipiert, um die PT und die Gesamtheit de Arbeiter- und Volksbewegung anzugreifen.

Hinter der politischen Krise stand die Wirtschaftskrise, die in Brasilien etwas verspätet ausbrach. Das Land lebte vom Rohstoffboom imperialistischer Länder, als 2008 die Krise, insbesondere in den USA, mit ihrer ganzen Wucht hereinbrach und klar wurde, dass es sich nicht um eine kleine Rezession handelte.

Die Entwicklung der Putschbewegung traf die PT auf Grund der opportunischen Ausrichtung der Partei, die schon mit dem Ausschluss der Parteilinken Anfang der 90er Jahre [des vorigen Jahrhunderts] offen zu Tage trat, politisch völlig wehrlos. Dieses Vorgehen sollte Allianzen mit den bürgerlichen Parteien wie PDT, PSB und sogar den Parteien aus der Militärdiktatur wie PMDB, PSDB und DEM und die Beteiligung am sogenannten „Koalitions-Präsidentialismus“ ermöglichen. Das gipfelte im “Brief an die Brasilianer” von 2002, um „den Markt“, d. h. die proimperialistische Bourgeoisie, zu beruhigen und eine Vereinbarung mit ihr zu ermöglichen und um Lula den Weg ins Präsidentenamt zu bahnen.

Die PT begann, die politische Schulung der Basis zu vernachlässigen und zeitgleich mit Lula eine entpolitisierte Sprache zu führen, indem klar einer Politik der Versöhnung und der Klassenkollaboration das Wort geredet wurde, damit „alle gewinnen“, „regieren für alle Brasilianer“, etc.

An der Regierung versuchte die PT immer mehr den bürgerlichen Staat zu verwalten, indem die begrenzten Sozialprogramme, die seit Fernando Henrique Cardoso eingerichtet waren, nur mit wenigen kosmetischen und propagandistischen Änderungen weitergeführt wurden, und neue mit einem im Wesentlichen reformistischen Charakter angepasst wurden.

Mit der Annahme der Sozialprogramme begann Lula immer wieder zu wiederholen, dass nun in Brasilien „der Arme mit dem Flugzeug reisen werde“, „der Arme die Universität besuchen werde“ und dass „die Reichen und Banken unter seiner Regierung niemals soviel Geld verdienen werden“.

Mit diesem Diskurs erreichte Lula zwei Mal die Wahl von Dilma Rousseff. Jedoch übernahmen die Bourgeoisie und der Imperialismus in der zweiten Amtszeit Dilmas mit dem Auftauchen der verzögerten Wirtschaftskrise in Brasilien und in Ausnutzung der Krise vom Juni 2013 eine Putschpolitik mit dem Ziel, die PT-Regierung zu ersetzen. Denn aus Sicht der Bourgeoisie war mit dem Rückgang der Profitrate das Aufrechterhalten einer PT-Regierung nicht mehr tragbar, da diese trotz ihrer begrenzten Reformen und ihrer Politik der Klassenversöhnung, bis hin zur Verabschiedung des reaktionären “Anti-Terrorismus-Gesetzes” zu teuer kam.

So war aus bürgerlicher und imperialistischer Sicht die Rekolonialisierung Brasiliens notwendig, und damit die Rücknahme von Arbeitsrechten und der Sozialversicherung der Arbeitenden, um sie durch die „Arbeitsreform“, die „Sozialversicherungsreform“ die PEC (“Verfassungsänderung bis zum Ende der Welt” (!!!) (= das Verbot, die öffentlichen Ausgaben in den nächsten 20 Jahren zu erhöhen), Präkarisierung, Outsourcing, Arbeitslosigkeit in Verbindung mit gestiegener Repression, massiver Steigerung der Inhaftierungen, der Ermordung armer Bauern, die Auslöschung der armen und schwarzen Bevölkerung am Rand der Städte und die Ausrottung der indigenen Völker zu ersetzen.

Also erreichten das Bürgertum und der Imperialismus mit der Aktivierung der Justiz als Speerspitze und dem Nationalkongress die Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff, während die PT-Führung keine weitere Reaktion hervorbrachte als Debatten im Parlament, sozusagen den Kampf im Wesentlichen auf die parlamentarische Ebene reduzierte. An Konkretem gab es als direkte Aktion nur den spontanen und instinktiven Widerstand der Massen, wie die Zurückweisung des Putschregimes zeigt. Nicht zu vergessen, dass sich ein Teil der kleinbürgerlichen Linken hinter die Putschisten stellte, wie die Gruppe „Foro todos“ (Alle Raus) und die morenistische PSTU (Partido Socialista dos Trabalhadores Unificados, Sozialistische Partei der vereinten Arbeiter), die sich nach dem Putsch in drei Teile spaltete.

Der Putsch ging nach dem „Impeachment“ mit der Annahme der „Arbeitsreform“ und dem “PEC zum Ende der Welt” weiter, kam aber gleich ins Schleudern, da die „Reform der Sozialversicherung“ nicht umgesetzt werden konnte, wohl wegen der Militärs, die einige wichtige Posten, darunter auch Minister, in der Putschregierung übernommen haben. In Río de Janeiro kam es zu einer Militärintervention seit den olympischen Spielen 2016, die eine Explosion der Gewalt mit tausenden Toten auslöste.

Obwohl es weder eine revolutionäre Arbeiterpartei noch eine revolutionäre Führung gibt, leisten die Massen dennoch weiter spontanen und instinktiven Widerstand. Ein Ausdruck davon ist die Zurückweisung der Putschisten, wie die Meinungsumfragen zeigen. Dieser Widerstand richtet sich auch gegen die jetzigen bürokratischen und verräterischen Führungen der Arbeiter- und Volksbewegung, der Gewerkschaftsverbände, die die Vorbereitung und Organisation eines Generalstreiks auf unbestimmte Zeit hinauszögern, denn sie wissen, dass dieser einen aufständischen Charakter gegen die Putschistenregierung annehmen könnte.

Andererseits kommen die Präsidentenwahlen im Oktober immer näher und die Kandidaten der Bourgeoisie können nicht abheben, was den Wahlprozess als Ausweg aus der Krise des kapitalistischen Systems und für das Putschistenregime lahmlegt. Die Bourgeoisie ist verzweifelt, findet aber keinen anderen Ausweg als sich auf das Militär zu stützen.

Die Wahlen, wenn sie durchgeführt werden, könnten noch antidemokratischer, betrügerischer und blutiger sein als die Gemeindewahlen von 2016 mit 45 Attentaten und 26 Toten.

Bisher war die Justiz die Speerspitze des Putsches, inklusive der Verhinderung der populärsten Kandidatur, jener von Lula, durch dessen politisch begründete Haftstrafe, die das Ergebnis einer vom CIA orchestrierten juristischen Farce genannt “Operacao Lava Jato” (Operation Waschanlage) war.

Die PT hält an der Kandidatur von Lula fest, was einen weiterer destabilisierender Faktor des Putschregimes darstellt. Aber es gibt Teile der Partei, die die Unterstützung des bürgerlichen Kandidaten und Exmitglieds des Aufsichtsrates der nationalen Eisen- und Stahlgesellschaft, Oberst Ciro Gomes, aufrechterhalten, eines Opportunisten, der bereits durch alle Parteien ging, inklusive der PSDB. Diese Tatsache kündigt eine baldige Spaltung der PT an.

Andererseits ist nicht auszuschließen, dass im Falle einer Massenradikalisierung, die durch die politische und wirtschaftliche Krise ausgelöst werden könnte, da sich diese der Instrumente bedienen könnten, die sie zur Hand haben. Wie man in Brasilien sagt: „Wenn du nicht bekommst, was du willst, nimm, was da ist!“ (= “Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach”).

Die Rolle, welche die Justiz heute spielt, lässt sich nicht lange aufrecht erhalten. Die politische und ökonomische Krise verschärft sich von Tag zu Tag. Der Dollar schießt in die Höhe und erreicht um die R$ 4,00, die Börse sackt ab (- 3 %) und die Inflation beschleunigt sich (+ 0,4 % im Mai). Früher oder später muss das jetzige Putschregime von einer neuen Regierung ersetzt werden, wahrscheinlich vom Typ einer bonapartistischen Diktatur, die den Ausgleich zwischen den sozialen Klassen suchen wird. Oder sie wird mittels einer proletarischen Revolution durch eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung ersetzt.

Ausgehend von dieser Perspektive befürwortet die TML die Durchführung eines Kongresses der Arbeiterklasse in Sao Paulo mit Basisdelegierten aus allen Bundesstaaten, um ein Kampfprogramm zu diskutieren:

  • für die unmittelbare Freilassung der politischen Gefangenen, wie Lula, Zé Dirceu, Joao Vaccari, Delúbio Soares;
  • für die gleitende Lohnskala, mit Anpassungen und Erhöhungen gemäß den Zahlen der DIESE (Nationales Statistikinstitut);
  • für Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich;
  • die Annulierung der „Arbeitsreform“;
  • gegen die „Reform der Sozialversicherung“, gegen das Ende der Pensionen und der Ansprüche aus der Sozialversicherung;
  • für die Zurücknahme des “PEC zum Ende der Welt”, das mittlerweile bereits Gesetzeskraft hat;
  • einen Arbeitslosenfond, zu dem die beschäftigten Arbeiter 0,5 % des Monatsgehaltes beitragen;
  • die Enteignung der Produktionsmittel: Fabriken, Banken, Universitäten, Schulen;
  • die Agrarreform und –revolution, Enteignung der Latifundien (Großgrundbesitz);
  • die Vertreibung des Imperialismus;
  • für Außenhandelsmonopol und Planwirtschaft, in Richtung auf eine Arbeiter- und Bauernregierung.

8. September 2018