Wir können heute [der 19. Mai wird in der Türkei als Atatürk-, Jugend- und Sportgedenktag begangen] nicht umhin, die Völkermorde zu thematisieren, die der schwarze Fleck der herrschenden Klassen in der Türkei sind. Völkermorde, die von der offiziellen Geschichtsschreibung verschwiegen werden, deren Erwähnung de facto verboten ist und deren Gedenken als “Beleidigung der Türk*innen und des Türkentums” bestraft wird. In der Türkei geht ein Gerücht um, das Gerücht der „offiziellen Geschichte“. All jene, die darüber berichten, sind den Repressionen durch die Gesellschaft und die Verfassung ausgesetzt. Ist es möglich, eine einzige Oppositionspartei zu benennen, die den Völkermord erwähnt, die nicht des Vaterlandsverrats und des Kommunismus beschuldigt wird? Daraus lässt sich nur eine Schlussfolgerung ziehen: die Beweise für den von offiziellen Historikern geleugneten Völkermord sind so stark, dass sie ein Jahrhundert nach diesen Ereignissen immer noch Furcht bei der herrschenden Klasse hervorrufen.
Die bisherige Geschichte ist die Geschichte der Klassenkämpfe. Am deutlichsten sehen wir das bei diesen Völkermorden. Die damals herrschenden Klassen, angefangen bei ihren Vertretern İsmail Enver [einer der Revolutionsführer der Jungtürken, später Kriegsminister des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und einer der Hauptanstifter des Völkermords an den Armeniern] und Mustafa Kemal [genannt Atatürk], scheuten vor nichts zurück, um ihre Macht zu verteidigen. Dabei förderten sie den Fanatismus der türkischen Volksgruppe, die unter den Völkern Anatoliens, die sie unterdrückten oder unterdrücken wollten, die Fraktion war, die ihren Interessen am ehesten entsprach. Als ihnen das nicht gelang, versuchten sie mit islamistischem Fanatismus und islamistischer Ideologie ihre Handlungen zu legitimieren. Die Massenmorde sind das Ergebnis einer ultra- autokratischen Ideologie, die darauf abzielt, die Arbeiterklasse zu spalten.
Der Auftakt zum Völkermord
Dieser Völkermord am 19. Mai – oder, unter seiner anderen Bezeichnung, der Völkermord an den Griechen – wurde nicht von heute auf morgen organisiert und durchgeführt. Im damaligen Osmanischen Reich orientierten sich die Völker, die aufgrund der Assimilationspolitik unterdrückt wurden, an den Arbeiter*innenaufständen seit der Französischen Revolution und 1848. Das Osmanische Reich, das ein Vielvölkerstaat war, erlebte ebenfalls derartige Revolten und versuchte, das Problem mit Reformen und Zugeständnissen zu lösen. Allerdings wurde das Problem dadurch nicht gelöst. Viele Völker versuchten, den Kriegseintritt des Osmanischen Reichs in den Ersten Weltkrieg für ihre Unabhängigkeitsbestrebungen zu nutzen. Während Staaten wie Serbien oder Bulgarien, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, nicht allzu sehr in diese Unruhen verwickelt waren, zögerte der griechische Nationalstaat nicht, die Aufstandsbewegungen der griechischen Bevölkerung zu unterstützen, die im Rahmen des heterogenen Osmanischen Reichs verblieben war.
Um nicht noch mehr Territorium zu verlieren – ein erfolgloses Unterfangen – , suchte dieses bereits im Zerfall begriffene Reich sein Heil in einer Deportationspolitik. Das Osmanische Reich, das unter dem Vorwand der Existenz „bewaffneter armenischer Banden“ das gesamte armenische Volk, egal, ob es mit „Banden“ zu tun hatte oder nicht, zu Todesmärschen verdammte, zögerte nicht, dasselbe mit den christlichen Griechen zu tun. Die Lasen, die in der Schwarzmeerregion leben (eine ethnische Gruppe, die den Mingreliern nahesteht), erlebten während des ersten Weltkrieges die Hinrichtung bewaffneter Aufständischer und sogar die Amnestie von Gefangenenen, weil sie Muslime waren. Griechen und Armenier dagegen wurden, nur weil sie Christen waren und mit der islamistischen Politik von İsmail Enver in Konflikt gerieten, den rücksichtslosesten Maßnahmen ausgeliefert. Klarerweise waren diese „bewaffneten Banden“ nie der Grund für die Völkermorde, sondern nur ein billiger Vorwand. Wäre das wirklich der Fall gewesen, hätten die muslimischen Lasen das gleiche Schicksal erleiden müssen. Die Lasen erlebten den Völkermord allerdings zwischen 1936 und 1939 durch Stalin in Georgien. Georgien war Teil der UdSSR. Der einzige Unterschied ist, dass Stalins “Todesmarsch” gegen die Lasen diese nicht ausrotten sollte, sondern ein Versuch, sie unter den Georgiern zu assimilieren und diejenigen, die Widerstand leisteten, in ganzen Wagenladungen nach Sibirien oder Turkestan zu deportieren.
Zurück zu den Griech*innen: Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu einer Million Griech*innen bei diesem langwierigen Völkermord ausgelöscht wurden. Es muss jedoch noch einmal betont werden, dass İsmail Enver und Mustafa Kemal den Griechen dies nicht antaten, weil sie Griech*innen waren, sondern weil sie Christ*innen waren. Der Beweis dafür ist das auf den “Befreiungskrieg” folgende Zwangsmigrationsabkommen mit der griechischen Regierung, wonach christliche Türk*innen und andere Christ*innen aus [der Provinz] Karaman nach Griechenland und Muslime und Muslima aus Griechenland in die Türkei ins Exil gehen sollten. Dieses Abkommen wurde von der CHP-Regierung [kemalistische Partei] unterzeichnet, und diese Unterschrift zeigt, dass diese Partei niemals säkular war. Einige Pseudomarxist*innen erklären törichterweise, dass die kemalistische Bewegung für ihre Zeit fortschrittlich war, und feiern den 23. April [1920, Datum der ersten Sitzung der Nationalversammlung]. Das Einzige, was wir diesen Stalinisten sagen können, ist, dass die Mentalität, die Jahre nach diesen Ereignissen zur Deportation der muslimischen Lasen nach Georgien geführt hat, dieselbe ultra-autokratische und völkermörderische Mentalität von İsmail Enver und Mustafa Kemal ist.
Wir müssen uns endlich mit dem 19. Mai auseinandersetzen!
Enternasyonal Marxist Gençlik (Internationalistische Marxistische Jugend Türkei)