„Die kumulative Zahl der bestätigten SARS CoV-2-Infektionen beläuft sich bis zum 30. Oktober 2020 auf weltweit über 45 Millionen. Die Zahl der Todesopfer in Zusammenhang mit dem Coronavirus stieg bis zu diesem Tag auf mehr als 1,18 Millionen Fälle. Das zugrunde liegende Coronavirus hat sich mittlerweile in mehr als 185 Ländern ausgebreitet. Derzeit werden aus den USA, Brasilien, Indien und Russland die höchsten Fallzahlen gemeldet. In Europa verzeichnen Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland und das Vereinigte Königreich die meisten Corona-Infektionen.“ (Statista-Portal).
Wir haben wiederholt, zuletzt im Editorial der Nummer 41/42 unserer Zeitschrift KLASSENKAMPF, unterstrichen, dass COVID-19 keine unvorhersehbare Naturkatastrophe ist, sondern das kombinierte Ergebnis aus imperialistischer Profitgier, der damit zusammenhängenden Naturzerstörung und der systematischen Vernichtung öffentlicher Gesundheitsdienste zugunsten privater Gesundheitskonzerne.
Weltweit dient der „staatliche Kampf“ gegen das Virus als Vorwand für den Abbau historischer demokratischer Errungenschaften der Arbeiter*innenklasse, der Stärkung der staatlichen Zwangsapparate und der Schwächung (unter Zwang oder freiwillig aus Opportunismus) der Arbeiter*innenorganisationen.
Als Marxist*innen wird unser Handeln auch während der Pandemie von den Grundsätzen der kommunistischen Moral geleitet: Wir sind solidarisch, wir nehmen Rücksicht auf unsere Kolleg*innen, wo wir können helfen wir in unserem Umfeld von der Krise Betroffenen, wir versuchen, durch Aufklärung andere Werktätige von der Notwendigkeit entsprechender Vorbeugemaßnahmen (Mund-Nasenschutz, Abstand zwischen Personen, Hygiene…) zu überzeugen.
Genau diese Vorbeugemaßnahmen sind heute das Einfallstor für Obskurantisten (weltliche wie religiöse), Impfgegner*innen und reaktionäre Wissenschaftsfeind*innen, die mit paradoxerweise „wissenschaftlich“ getarnten Schauergeschichten bei breiteren Schichten Gehör finden. Ebenso paradox: Die Gleichen, die sich bei internationalistischen oder sozialen Protesten immer für Demonstrationsverbote ausgesprochen haben, geben sich jetzt als die größten Verteidiger der Versammlungsfreiheit und agieren generell im Namen der „Freiheit“.
Es gilt, die Notwendigkeit bestimmter Vorbeugemaßnahmen säuberlich von der Art und Weise zu trennen, wie sie die Bourgeoisie und ihre Regierungen (scheinbar) durchsetzen. Dazu gehört natürlich auch die Verteidigung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts oder des Rechts auf freie Meinungsäußerung.
Scheinbar durchsetzen: Wenn man davon absieht, dass in erster Linie mit Zwangsmaßnahmen gedroht wird und Vorwände konstruiert werden, um das Durchgriffsrecht von Polizei und Armee zu stärken, hat auch der erste „Lockdown“ klar gezeigt: Gesundheitsprävention hört exakt an der Grenze auf, an der Maßnahmen das kapitalistische System insgesamt gefährden könnten. Erzwungene Quarantäne, Ausgehverbote, Besuchseinschränkungen… Der private Alltag wird in Fesseln gelegt – aber hackeln sollen die Leute trotzdem. Auch während Lockdown I haben die wichtigsten Industriebetriebe weiter produziert, oft unter Außerachtlassung von Vorsorgemaßnahmen; die großen Handelsketten konnten (mit Einschränkungen) weitermachen, auf Kosten der meistens Teilzeit beschäftigten weiblichen Lohnabhängigen, die dazu oft noch die Belastung von schulpflichtigen Kindern zuhause bewältigen mussten; mit Kurzarbeit und Massenkündigungen wurden in erster Linie Großbetriebe entlastet, bei denen dank „Homeoffice“ aber in der Regel weitergearbeitet werden konnte. Auf die lobenden Worte für die “Held*innen der Arbeit” aus dem Mund des Kanzlers folgte der Hohn der Unternehmer*innen: Nicht nur knickte die Gewerkschaft schon am ersten Tag der Kollektivvertragsverhandlungen bei einer lächerlichen Lohnerhöhung von 1,5 % ein, darüber hinaus wurde dann großzügig angekündigt, dass Unternehmen “auf freiwilliger Basis” den fleißigen Held*innen einen Bonus auszahlen können. Lohnabhängige werden so zu Almosenempfänger*innen degradiert.
Die Seuchenbekämpfung des bürgerlichen Staates kam und kommt den imperialistischen Konzernen zugute, entzieht Teilen des Kleinbürgertums ihre Existenzgrundlage und verschlechtert die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen.
Ideologisch hat die herrschende Klasse seit Jahrzehnten eine Art „Expertokratie“ gepredigt, um die in einer sozialistischen Gesellschaft erfolgende Aufhebung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung schon vorauseilend als unmöglich darzustellen. Vor mehr oder minder wichtigen Entscheidungen zaubert die Bourgeoisie immer Expert*innen aus dem Hut, die jeweils die Positionen untermauern, die für die betroffenen imperialistischen Fraktionen wichtig sind: In den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts Studien, die „bewiesen“, dass Rauchen nicht schädlich sei; Studien, die vor „Umweltpanik“ warnten und erklären, dass der Klimawandel ganz natürlich und viel langsamer vor sich gehe; werbewirksame Tests über die Unbedenklichkeit von Nahrungsmittelzusatzstoffen, etc.
Coronaleugnerinnen (egal ob sie sich Querdenker, Fairdenker oder Trump nennen) führen klingende Namen von „Expert*innen“ an, um ihren Humbug glaubwürdiger predigen zu können.
Als Vertreter des dialektischen Materialismus sind wir selbstverständlich Verteidiger der Wissenschaft. Wissenschaft ist mehr als die Summe vieler „Expert*innenmeinungen“. Es geht um Erkenntnisse, die mit wissenschaftlichen Methoden gewonnen, gegen andere ebenso wissenschaftlich gewonnene Positionen abgewogen werden können und die Basis für bewusstes menschliches Handeln bilden. Als Dialektiker wissen wir auch, dass sich Natur, Gesellschaft und Erkenntnis nur durch Widersprüche weiterentwickeln können. Gerade im Kampf gegen die Covid-Pandemie ist es dringend erforderlich, dass unterschiedliche wissenschaftliche Meinungen offen diskutiert werden und diese Diskussionen auch so nach außen kommuniziert werden, dass interessierte Nichtwissenschaftler*innen zumindest einen Überblick über diese Positionen gewinnen können.
Faschist*innen, „neurechte“ Bewegungen, Anthroposoph*innen, sonstige Impfgegner*innen, religiöse Fundametalist*innen versuchen, die berechtigte, aber von den Herrschenden ins gigantische aufgeblähte, Angst der Masse der werktätigen Bevölkerung vor Erkrankung und Ansteckung für ihre eigenen Ziele zu instrumentalisieren. Die Methoden der Propaganda sind unterschiedlich:
- „Corona gibt es gar nicht“ – die herrschenden Klassen haben die Pandemie nur erfunden, um ihre finsteren Pläne durchzusetzen. Das ist dann oft an Verschwörungstheorien („Bill Gates will die Menschen chippen“, „Die Pharmaindustrie will alle impfen, weil das Geld bringt“) gekoppelt, die alle eine diffuse „antikapitalistische“ Stoßrichtung haben. Das ist nicht neu, auch die Nazis haben mit pseudo-antikapitalistischen Parolen gegen das „raffende Kapital“ Arbeitslose und Arbeiter*innen sowie das „brave“, „schaffende Kapital“ zusammengebracht.
- Impfen ist unnötig – der „gesunde“ Mensch entwickelt genug körpereigene Abwehrkräfte. Wer’s nicht überlebt war einfach zu schwach. Diese „Sozialdarwinismus“ genannte Meinung haben schon bürgerliche Ökonomen und „Wissenschaftler“ im 19. Jahrhundert vertreten, ein probates Mittel, um am Arbeitsschutz und an der Gesundheitsvorsorge zu sparen.
- Mund-Nasen-Schutz schützt nicht, „sie wollen uns den Maulkorb anlegen“. Wenn wir das Kriterium der Wissenschaftlichkeit anlegen (siehe oben) können wir sagen, dass trotz unterschiedlicher wissenschaftlicher Bewertungen in jedem Fall zumindest ein minimaler Schutz durch MNS gegeben ist. Außerdem sind Schutzmasken ein sichtbares Signal: Hier wird Rücksicht auf die anderen genommen. Das alleine rechtfertigt bereits die möglichst flächendeckende Verwendung von Gesichtsmasken.
- „Corona ist einfach eine etwas heftigere Grippe“ – auch hier gibt es wissenschaftlich gesicherte, evidenzbasierte Erkenntnisse, die das widerlegen. Bedauerlicherweise gibt es auch sogenannte „Linke“, gar „Revolutionäre Kommunisten“ wie die RCIT, die einschlägigen Unfug der von einem reaktionären amerikanischen Thinktank initiierten „Great Barrington“-Erklärung weiterverbreiten.
Ihre “Freiheit” und unsere
Die reaktionären „Freunde der Freiheit“ berufen sich dann immer auf „ihre“ Expert*innen. Wenn man diese aber auf Kriterien der Wissenschaftlichkeit abklopft, bleibt in der Regel nichts übrig. Die bloße Tatsache, dass jemand „Doktor“ [irgendeiner medizinischen Richtung] ist, macht ihn nicht zum Experten für COVID-19. Oder würden Sie sich wegen einer Hüftoperation an einen Augenarzt wenden (der ist ja auch Mediziner)?
Wenn wir gegen die autoritären Maßnahmen der Bundesregierung sind, ist das nur eine scheinbare Kongruenz mit den „Querdenkern“, die sich ohne MNS zusammenrotten und Regenbogenfahnen zerreissen.
Tatsächlich ist das anti-wissenschaftliche, esoterische, individual-”freiheitliche” Milieu der Coronaleugner*innen und Maskenverweiger*innen der ideale Rahmen für Neonazis und Faschist*innen, die in der Bewegung aktiv sind, diese als Tribüne nutzen und in ihrem Sinne radikalisieren. Historisch ist das nicht verwunderlich. Die frühen reaktionären, antisemitischen und protofaschistischen Bewegungen in Deutschland vor und nach dem 1. Weltkrieg standen in enger Wechselwirkung mit esoterischen Strömungen wie der Anthroposophie, in der sich unter anderem die im wilhelminischen Deutschland durchaus traditionsreichen Impfgegner*innen tummelten. Der mit dem Sozialdarwinismus verwandte Herrenmenschenmythos wandte sich gegen die “verjudete Schulmedizin”, der eine gesunde, weil angeblich “arische” Volksmedizin gegenüberstand. Und die lehnte Impfungen ab, weil dadurch nur Schwächlinge lebensfähig gemacht wurden.
Der unterschwellige oder offene Antisemitismus dieser Szene gemeinsam mit der massenhaften Mobilisierung Unzufriedener gegen die “Eliten” öffnete das Einfallstor für Faschist*innen aller Couleurs. In Deutschland und Österreich findet sich alles im Spektrum der Maskengegner*innen: Prepper (die, welche sich auf den großen Krach vorbereiten, mit Bunker, Konserve und Sturmgewehr), Reichsbürger*innen, Identitäre, Die Rechte, der III. Weg, Kameradschaften, faschistoide Hooligans, AfD und FPÖ, religiöse Faschisten wie Opus Dei-Anhänger, Freikirchler und Evangelikale.
Wer unter dem zentralen Slogan “Wir sind das Volk” marschiert, um seine kleine individuelle Freiheit erbittert zu verteidigen, hat ein durchaus offenes Ohr für diejenigen, die dem “Volk” noch ganz andere Sachen zutrauen als das Verbrennen von Schutzmasken. Wenn in Wien auf Kundgebungen der Corona-Leugner plötzlich unter frenetischem Beifall eine Regenbogenfahne zerrissen wird ist das ein schwacher Abglanz dessen, was sich später abspielen könnte – ein Blick nach Leipzig reicht. Dort ist es gut organisierten nazistischen Kadern gelungen, gar nicht so kleine Polizeieinheiten zu überrennen und ihre “Straße frei”-Parole zu verwirklichen. Nein, noch heißt es nicht “Die Straße frei den braunen Bataillonen”, noch heißt es “Straße frei” für das “Volk”, das gegen “Maulkorb” und “Freiheitsbeschränkungen” demonstriert.
Wir haben die Politik der Regierung als eine klare Funktion der Interessen der herrschenden Klasse analysiert, die schon lange vor der Corona-Krise begonnen hat, ihre eigene Herrschaftsform der parlamentarischen Demokratie auszuhöhlen und in Richtung starker Staat zu marschieren. Wir verteidigen keine abstrakte „Freiheit“, sondern wir verteidigen alle demokratischen Errungenschaften, die den werktätigen Massen den Bewegungsspielraum verschaffen, sich der reaktionären bürgerlichen Offensive entgegenzustemmen.
Wenn heute FPÖ, THC, Herr Raphael Bonelli (Psychiater, Vlogger und Katholik), die Identitären, evangelikale Sekten und andere Obskurant*innen die „Freiheit“ predigen, predigen sie die kleine egoistische „Freiheit“, die exakt bis zur eigenen Nasenspitze reicht. Ihr „Freiheitsverständnis“ ist das des egoistischen Bürger- und Kleinbürgertums. „Was meinem Profit, was meinem Wohlbehagen schadet, schränkt meine Freiheit ein“. Niemand sollte vergessen, mit welcher Vehemenz die derzeitigen potenziellen Superspreader nach Demonstrationsverboten geschrieen haben, als es um antirassistische, antifaschistische oder soziale Aktionen ging. Da war die „Erwerbsfreiheit“ der Händler auf der Mariahilferstraße in Gefahr; als es gegen die Zerschlagung verstaatlichter Industrien, gegen Massenkündigungen ging – da war durch „sozialistische Träumereien“ die „Freiheit“ der Wirtschaft in Gefahr. Und jetzt jammern sie kläglich über „Freiheitseinschränkungen“.
COVID-19: It’s capitalism, stupid!
Heute muss man offen aussprechen: Der Kapitalismus ist das größte Hindernis zur Bekämpfung der Pandemie – und gleichzeitig ihre Ursache. Seine Profitinteressen führen zu so massiven Eingriffen in die Natur, dass die natürlichen Lebensräume von Wildtieren immer weiter zusammenschrumpfen und damit die Möglichkeiten der Übertragung von Krankheiten auf den Menschen stetig wachsen. Alle Maßnahmen, die bürgerliche Staaten ergreifen (oder auch nicht, wie etwa die Trump-Administration in den USA) sollen in letzter Instanz das bestehende Gesellschaftssystem aufrecht erhalten. Daher auch die chaotischen und inkonsequenten Maßnahmen seit Ausbruch der Pandemie. Solange genug Lohnarbeiter*innen zur Verfügung stehen, um den Produktionsbereich und den Vertrieb der produzierten Waren am Laufen zu halten, ist alles paletti. Die Kapitalist*innen, ihre Politiker*innen und ihre Manager*innen brauchen sich keine Sorgen um Intensivbetten zu machen – sie können sich eine ärztliche Betreuung leisten, von der Werktätige höchstens träumen können.
Nur eine bewusst geplante Wirtschaft im Interesse der Arbeitenden kann sich so organisieren, dass die Gefahren einer Ausbreitung von Pandemien möglichst gering gehalten werden kann. Nur eine Gesellschaft, in der nicht mehr eine kleine Minderheit der überwältigenden Mehrheit mit Polizei, Armee, paramilitärischen Banden, Milizen, wie auch immer ihren Willen aufzwingen kann, wird dafür sorgen, dass es ein kostenloses, qualitativ hochwertiges Gesundheitssystem für alle gibt; in der die Menschen solidarisch und bewusst Probleme lösen können, in der der Mensch das höchste Wesen des Menschen ist.