Eine Niederlage des Imperialismus auf den Leichenbergen der Unterdrückten (Teil 2)

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Mit der sowjetischen Invasion war die Stunde des US-Imperialismus gekommen. Im CIA wurde offen davon gesprochen, dass man den “Russen nun ihr Vietnam” verpassen würde. Die Regierung unter Präsident Jimmy Carter war von dieser Perspektive begeistert. Durch CIA-Mittelsmänner wurden die Mudschahidin mit Waffen und Geld versorgt. Das Anheizen des Islamismus war durchaus erwünscht. Daher standen vor allem die Verbände von Hekmatyar ganz oben auf der Auszahlungsliste der amerikanischen Imperialisten. Hekmatyar kämpfte für einen islamischen Staat und soll eigenhändig in Kabul unverschleierte junge Frauen bei Säureattentaten verstümmelt haben. Was ihn für die US-Imperialisten besonders interessant machte: Hekmatyar arbeitete schon seit Jahren mit der pakistanischen Regierung und deren Geheimdienst ISI zusammen und war in seinem islamistischen Machtstreben völlig skrupellos.

Aufgrund des Rohstoffreichtums des Landes und der geopolitischen Bedeutung Afghanistans mischten auch der französische und britische Imperialismus mit. Diese beiden Imperialismen setzten auf den charismatischen Guerillaführer Ahmad Schah Massoud. Der 1953 geborene Sohn eines tadschikischen Offiziers schloss sich bald nach Beginn seines Studiums an der Universität Kabul einer islamistischen und antikommunistischen Jugendorganisation an und trat 1976 der Dschamiat-i Islāmī-yi Afghānistān bei (Islamische Vereinigung Afghanistans), die 1968 unter Einfluss der ägyptischen Muslimbruderschaft gegründet worden war. Im Gegensatz zu anderen islamistischen Parteien grenzte sich die Dschamiat-i Islāmī-yi Afghānistān deutlich von wahhabitischen Strömungen aus, die über Pakistan versuchten, in Afghanistan Einfluss zu gewinnen.

Massoud war der militärisch fähigste Mudschahidinführer und baute im heimatlichen Pandschirtal ein Rückzugsgebeit auf, von dem aus er den russischen Truppen schwere Verluste beibrachte. Der Entschluss der neuen sowjetischen Führung rund um Michail Gorbatschow im Jahr 1988 das Engagement in Afghanistan zu beenden war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das US-imperialistische Kalkül aufging, durch den Afghanistan-Krieg die sowjetische Wirtschaft zum Kollaps zu bringen. Vor allem die Lieferung von Stinger-Raketen an die Mudschahidin verteuerten den Krieg für die UdSSR unerwartet. Hatten die sowjetischen Helikopter bis 1986 die Lufthoheit, änderte sich das mit dem Einsatz der einfach zu bedienenden Stingers schlagartig. Hunderte der teuren Kampfhubschrauber wurden abgeschossen.

Der Afghanistan-Krieg hatte eine bedeutende Strahlkraft in Ländern mit muslimischer Bevölkerung. Ab 1980 versuchten arabische “Freiwillige”, in den Konflikt zu intervenieren. Genaue Daten liegen nicht vor, aber Osama bin Laden behauptet, in diesem Jahr zum erstenmal in Afghanistan gewesen zu sein und sich entschlossen zu haben, die Mudschahidin zu unterstützen. Seine Hilfsorganisation verteilte Kleidung, Nahrungsmittel und Geld – stieß jedoch nicht immer auf Gegenliebe der afghanischen Islamisten, die mit der wahhabitischen Interpretation des Koran wenig anfangen konnten. Auch wenn bin Laden emsig an seiner Heldenlegende webte – der Einfluss der saudischen Freiwilligen war gering. Entscheidend war aber eines: mittels der pakistanischen Regierung, aber auch direkter Agenten, schuf der US-amerikanische Imperialismus eine gefährliche und diversifizierte islamische Bewegung in der Region, die sich fast zwangsläufig irgendwann gegen die verhassten Ungläubigen wenden musste.

Am 14. April 1988 wurde in Genf der Vertrag zwischen der Sowjetunion und der afghanischen Regierung unter Mohammed Najibullah unterzeichnet, der den völligen Rückzug der sowjetischen Truppen bis zum 15. Februar 1989 vorsah.

In Kabul versuchte die DVPA-Regierung weiterhin die Kontrolle über das Land zu behalten. Erst im April 1992 stürzte die Regierung Nadschibullahs unter dem militärischen Druck der Mudschahidin. Das ist insofern besonders bemerkenswert, weil es die imperialistische Propaganda widerlegt, dass die DVPA eine reine Marionettenpartei der UdSSR gewesen wäre. Tatsächlich erfreute sich die Partei in den Städten nach wie vor einer beträchtlichen Unterstützung, nicht zuletzt weil die islamistische Rhetorik der Mudschahidin und ihrer politischen Vertretungen immer reaktionärer wurde.

Letztlich unterlagen die Städte den rückständigen Dörfern. Aber damit begann die Zerrüttung des Landes erst, denn nun begannen die verfeindeten Kriegsherren und Mudschahidinfraktionen, sich untereinander zu bekämpfen.

Eine Schlüsselrolle fiel Ahmad Schah Massoud zu – der “Löwe des Pandschirtals”, wie er bewundernd auch von seinen Gegenspielern genannt wurde, weigerte sich, die Regierungsgewalt zu übernehmen. Er befürchtete, dass seine tadschikische Herkunft zu neuen Konflikten in der islamistischen Front führen würden. Seine Versuche, die Hauptstadt vor Plünderungen und Verwüstung durch islamistische Warlords zu schützen, scheiterten. Im pakistanischen Peschawar trafen die Führer der großen islamistischen Parteien und Mudschahidin zusammen und einigten sich auf einen faktischen Waffenstillstand zwischen den verfeindeten Fraktionen und die Organisierung freier Wahlen.

Hekmatyar blieb den Verhandlungen fern – mit massiver Unterstützung Pakistans versuchte er, die Macht an sich zu reißen. Er rückte auf Kabul vor und begann ein jahrelanges Bombardement der Stadt. 1993 zog sich sein Hauptgegner Massoud gegen das Versprechen, die Bombardierung Kabuls zu beenden, von der Funktion des Verteidigungsministers zurück. Hekmatyar setzte aber die verheerenden Artillerie- und Luftschläge fort.

Neben Pakistan versuchten auch die Nachbarstaaten Iran und Usbekistan Einfluss zu gewinnen. Das wiederum führte zur Steigerung der verborgenen US-amerikanischen Militärhilfe für diverse islamistische Kräfte, inklusive Hekmatyar, der immer unberechenbarer geworden war. Noch unübersichtlicher wurden die Fronten, als die von Saudi-Arabien unterstützten wahhabitischen Ittihad-i Islami-Verbände von Abdul Rasul Sayyaf und die vom Iran unterstützten schiitischen Hezb-i Wahdat-Milizen von Abdul Ali Mazari gegeneinander zu kämpfen begannen. Hekmatyar witterte eine Chance, seine Chancen zu steigern und verbündete sich mit der schiitischen Miliz. Der usbekische Warlord Abdul Rashid Dostum schloss sich mit seiner Miliz dieser Allianz an und beteiligte sich an den Angriffen auf Kabul. Über 25.000 Zivilistinnen und Zivilisten kamen bei diesem zermürbenden Stellungskrieg ums Leben.

1994 trat dann ein neuer gefährlicher Akteur auf die politische und vor allem militärische Bühne: die Taliban. In Pakistan hatte die islamistische Jamiat Ulema-e-Islam-Partei (“Vereinigung islamischer Gelehrter”, JUI) in den Gebieten, in denen es afghanische Flüchtlingslager gab, Koranschulen (Madrasas) organisiert. Die JUI besteht mehrheitlich aus Paschtunen und vertritt eine extrem dogmatische (deobandische) Lehre. Die ausschließlich männlichen Schüler wurden mit der fundamentalistischen, an der Scharia orientierten Islamversion der JUI indoktriniert. Viele Eltern nahmen das lieber hin, als die Kinder hungern zu lassen. Aus diesem Pool fanatisierter junger Männer speiste sich die Bewegung der Taliban. Der paschtunische Name Taliban bedeutet Schüler, Suchende.

Der 1960 geborene Mohammed Omar, ein aus ärmlichen bäuerlichen Verhältnissen stammender Dorfmullah, gründete (so die offizielle Version der Taliban-Geschichtsschreibung) im Sommer 1994 mit 30 Männern eine religiös motivierte Bewegung, um einen Mudschahidin-Kommandanten zu bestrafen, der zwei Mädchen vergewaltigt hatte. Sie schnappten den Mann und hängten ihn an einem Panzerrohr auf. Wie viele “Heldengeschichten” aus dem afghanischen Bürgerkrieg ist auch diese nicht belegbar.

Mit pakistanischer Hilfe rollten die Taliban vom Süden her, mit Zentrum Kandahar, Afghanistan auf. Sie stießen auf Unterstützung bei den ärmsten ländlichen Schichten und der dortigen Geistlichkeit. Ihr Kampf gegen die verfeindeten Mudschahidin und die rigorose, auf der Scharia basierende Unterdrückungspolitik schien manchen Dörflern immer noch besser als die Instabilität durch wechselnde Besatzer und korrupte und erpresserische Statthalter der Warlords.

Ein psychologischer Vorteil im Kampf war die Tatsache, dass sich die Taliban als fanatische Gläubige gaben und den religiösen Charakter ihrer Bewegung herausstrichen. Manche Mudschahidin weigerten sich, gegen Geistliche (so sahen sie die Taliban) zu kämpfen.

Als Shah Massoud Ende 1994 einen Gipfel der Mudschahidin zustande brachte, der den Weg zur Schaffung einer islamischen Republik ebnen sollte, lud er die Taliban zur Teilnahme ein. Die lehnten ab. Demokratische Wahlen (wie immer diese unter den damaligen Bedingungen auch aussehen mochten) lehnten die Fundamentalisten ab. Stattdessen begannen sie 1995 eine Welle von Bombenanschlägen in Kabul: Autobomben zerfetzten Menschen auf belebten Plätzen, mit Sprengstoffgürteln ausgerüstete Kommandos stürmten mit Maschinengewehren in die Stadtteile, massakrierten, wer ihnen vor die Läufe kam, um sich schließlich in die Luft zu sprengen und möglichst viele Opfer mitzunehmen.

Massoud führte jetzt einen entschiedenen Kampf gegen die Taliban, die zurückweichen mussten und schon fast geschlagen schienen. Aber zwei potente Geldgeber wendeten das Blatt: die saudischen und pakistanischen Regierungen pumpten Geld in die Taliban-Bewegung, die dadurch aufrüsten und ihren Waffenpark modernisieren konnte. Im September 1996 musste er mit seinen Truppen den Rückzug aus Kabul antreten. Die Taliban marschierten in die Hauptstadt ein. Eine ihrer ersten Aktionen war eine grausame PR-Show: Der letzte Präsident der DVPA-Regierung Nadschibullah, der im UN-Hauptquartier Zuflucht genommen hatte, wurde verhaftet, gefoltert, ermordet und sein Leichnam vor dem Präsidentenpalast aufgehängt.

Wieder hatte “das Dorf über die Stadt” gesiegt, mit furchtbaren Folgen für die Bevölkerung der Hauptstadt. Frauen wurden de facto zu Gefangenen in ihren Häusern gemacht. Sie durften nur noch mit Ganzkörperschleier und in Begleitung eines männlichen Angehörigen das Haus verlassen. Für Mädchen gab es keinen Schulunterricht mehr, außer primitive religiöse Unterweisungen; “unbotmäßige Frauen” wurden auf den Straßen von Talibans misshandelt. Ehebrecherinnen wurden gesteinigt. Gegner des Regimes, Kommunisten, religiöse “Abweichler” wurden verhaftet, gefoltert, teilweise in öffentlichen Hinrichtungsorgien in Stadien zur Abschreckung ermordet.

Dagegen rührte sich Widerstand: Tapfere Lehrerinnen hielten heimlich Schulstunden für Mädchen ab. So wie die Taliban früher mit ihren Attentaten Angst und Schrecken verbreitet hatten, wurden sie nun selbst Ziel von Anschlägen. Vor allem aber schlossen sich ehemalige Feinde zusammen, um die Herrschaft der Taliban zu brechen: Massoud und sein einstiger Gegenspieler Dostum bildeten gemeinsam mit den Milizen der von den Taliban verfolgten hazarischen Minderheit die Vereinigte Front (Nordallianz). Bald traten auch paschtunische Einheiten, wie jene des späteren Präsidenten Karzai, der Allianz bei.

Ahmad Schah Massoud blieb allerdings der einzige Kommandeur, der seine Gebiete erfolgreich gegen die Taliban halten konnte. Die pakistanische Regierung wollte nun eine Entscheidung erzwingen und schickte zehntausende Pakistanis ins Nachbarland, um die Taliban zu unterstützen.   Bis zu 28.000 pakistanische Staatsbürger und 3.000 Freiwillige aus arabischen Ländern und Asien kämpften gegen die Vereinigte Front. Erwähnt sei die 055-Brigade (oder 55. Arabische Brigade), die von Osama Bin Ladens Al-Qaida ausgebildet und bezahlt wurde. Zwischen ein- und zweitausend Dschihadisten aus verschiedenen Ländern wurden zu einer exzellent ausgerüsteten Truppe zusammengeschweißt. Sie verfügten unter anderem über Satellitentelefone, Nachtsichtgeräte und eigene Flugzeuge. Mitglieder der Brigade wurden teilweise Talibaneinheiten zugeteilt, um deren Kampfkraft zu stärken.

2001 hatten die Taliban ihren Einfluss Großteils verspielt. Über eine Million Afghan*innen waren ins Ausland geflüchtet, in einer Binnenmigration flohen hunderttausende in die von Massoud kontrollierten Nordprovinzen und das Pandschirtal.

Bei den islamistischen Milizen und Parteien hatte sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine Fortführung des Bürgerkriegs zur völligen Verwüstung des Landes führen würde. Die US-Imperialisten und ihre Verbündeten hatten einzelne Warlords und Parteien solange unterstützt, bis der Hauptfeind UdSSR geschlagen war. Danach hatte das Interesse an Afghanistan merklich nachgelassen, wodurch für Anrainerstaaten und Regionalmächte der Weg frei wurde, durch Unterstützung der einen oder anderen Seite Einfluss und Kontrolle über die Bodenschätze des Landes zu gewinnen. Also wurden mehrere Gipfelkonferenzen zwischen den Fraktionen organisiert, um geordnete Verhältnisse herzustellen.

Im Frühjahr 2001 flog Massoud nach Brüssel und sprach vor dem Europäischen Parlament. Er wandte sich damit direkt an die europäischen imperialistischen Mächte, um deren Unterstützung – finanziell und humanitär – zu erbitten. Er bekräftigte sein Bekenntnis zu einem islamischen Staat, den er aber deutlich von der “Fehlinterpretation des Koran” durch Taliban und Al-Qaida abgrenzte. Aufhorchen ließ sein Versprechen, das Frauenwahlrecht einzuführen und eine Loja Dschirga (“Große Versammlung”, eine Art Mischung aus Ältestenrat, verfassungsgebender Versammlung und Vertretung der diversen Nationalitäten, obwohl die Dschirga primär eine paschtunische Institution ist) einzuberufen. Ein besonderer Knalleffekt war Massouds Vorschlag, dass der Vorsitz der Loja Dschirga vom greisen Zahir Shah, dem 1973 gestürzten König, eingenommen werden sollte.

Bei seiner Europareise warnte Massoud vor einem “großen Anschlag”, den Al-Qaida vorbereite.

Am 9. September wurde Ahmad Shah Massoud in seinem Hauptquartier von zwei Attentätern der Al-Qaida, die sich als Journalisten ausgegeben hatten, mit einer Bombe getötet. Zwei Tage später kam es zum Terrorangriff auf die Twin Towers in New York.

Es wäre verführerisch, den von US-Präsident George W. Bush ausgerufenen “Krieg gegen den Terror” ausführlich zu behandeln (immerhin wurden im Eilzugstempo Gesetze wie das US Patriot Act aus der Schublade gezaubert, die innerhalb der USA wichtige Freiheiten aufhoben und die Polizeibefugnisse bis hin zum Verschwindenlassen von “Terrorverdächtigen” ausweitete). Konzentrieren wir uns jedoch auf Afghanistan.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 rief die US-Regierung zum ersten mal in der Geschichte den Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrages aus (kriegerischer Angriff auf ein Mitgliedsland). Damit war der Weg frei für die “Operation Enduring Freedom”, die am 7. Oktober 2001 mit der Bombardierung von Zielen in Afghanistan begann. Den amerikanischen Imperialisten ging es aber keineswegs um die sehr begrenzte Suche nach Osama bin Laden und seinen Unterstützern. Unter dem Vorwand des Krieges gegen den Terror schafften es die USA endlich, in den wichtigen zentralasiatischen Nachbarländern Afghanistans Militärstützpunkte zu errichten. 9/11 war der ideale Anlass, die militärische Führungsrolle des amerikanischen Imperialismus weltweit zu demonstrieren. Bushs Botschaft war klar: Wer in diesem “Krieg” die USA nicht unterstützt ist gegen die Vereinigten Staaten.

Eine wesentliche Stütze des US-Imperialismus war die deutsche Regierung. Dort fand auch vom 27. November bis zum 5. Dezember 2001 die Petersberger Konferenz statt. An der Konferenz nahmen vier Delegationen verschiedener afghanischer Gruppierungen mit insgesamt 28 Delegierten teil. Unter imperialistischer Aufsicht wurde ein Stufenplan zur Machtübergabe an eine “demokratisch legitimierte Regierung nach der Entmachtung der Taliban” verkündet. In Tokio fand im Januar 2002 eine weitere “Afghanistankonferenz” statt, bei der die imperialistischen Mächte eine “Wiederaufbauhilfe” von 4,5 Milliarden US-Dollar beschlossen. Um zu kontrollieren, ob die Investitionen auch in ihrem Sinne erfolgten, wurden einzelne Mitgliedsstaaten der Allianz gegen den Terror für die “Koordination” des Aufbaus “demokratischer Strukturen” bestimmt: Der Aufbau der Armee lag in den Händen der USA, des Justizsystems wurde Italien übertragen, der deutsche Imperialismus übernahm den Aufbau der Polizei und Großbritannien den “Kampf gegen den Drogenhandel”.

Tatsächlich wurde nach Vertreibung der Taliban von der Loja Dschirga der paschtunische Adelige Karzai zum Interimspräsidenten “gewählt”. Der gesamte Wahlvorgang zeigte, wie die imperialistischen Vorstellungen von Unabhängigkeit aussehen: Karzai, ein Warlord wie viele andere auch, stand lange Jahre auf der Gehaltsliste der CIA und hatte einen Beratervertrag mit UNOCAL, dem wichtigsten in der Region tätigen US-amerikanischen Ölkonzern. In dieser Funktion soll Karzai zwischen dem Konzern und den Taliban über den Bau einer Gaspipeline durch Afghanistan vermittelt haben. Jedenfalls unterzeichnete die Regierung Karzai bereits 2002 mit Turkmenistan und Pakistan einen Vertrag über die Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Pipeline, die “zufällig” einen ähnlichen Verlauf wie das frühere Projekt haben soll.

Vor der im Sommer 2002 stattfindenden Loja Dschirga, die bereits unter dem “Schutz” von Besatzungstruppen der US-geführten internationalen Koalition durchgeführt wurde, kontaktieren amerikanische Agenten Warlords und Stammesführer und boten ihnen jeweils bis zu 100.000 US-Dollar an, falls Karzai gewählt werden würde. Ausgezahlt würde die Bestechungssumme aber erst nach vollzogener Wahl. Zur Absicherung des Ergebnisses ließ Karzai mit US-Hilfe 700 potenzielle Gegner von der Teilnahme an der Loja Dschirga ausschließen. Überraschend bildete sich bei den Beratungen der Loja Dschirga eine wachsende Opposition gegen Karzai – ihr Favorit war Ex-König Zahir Shah. Nach massivem Druck und entsprechenden Drohungen zog sich der Alte wieder ins Exil nach Italien zurück. Peinlicherweise verkündete Karzai das Ergebnis seine Wahl zum Präsidenten, noch bevor der Wahlakt stattgefunden hatte.

In die Regierung Karzais wurden mehrheitlich Vertreter der Nordallianz, lokale Warlords und Feudalherren aufgenommen. Es sei hier deutlich unterstrichen, dass sich die Mudschahidin seit ihrer Gründung im Kampf gegen die sowjetischen Truppen, später im Krieg untereinander und gegen die Regierung der DVPA einer Reihe von Kriegsverbrechen und Massakern schuldig gemacht hatten.

Das hing unter anderem mit der Bedeutung des Mohnanbaus und damit des Rauschgifthandels zusammen. Karzai war unter anderem deshalb in der Loja Dschirga auf Opposition gestoßen, weil ein Teil seiner Familie eine wichtige Rolle im Drogengeschäft spielte (seine Cousins kontrollieren die wichtigste Logistik-Firma des Landes und sollen ihre Expertise im Rauschgiftschmuggel gewonnen haben). Die Opposition hatte allerdings nichts gegen Mohn oder Opium, es wollten nur auch andere Milizführer am Kuchen mitnaschen.

Der Einsatz der Internationalen Besatzungstruppe ISAF brachte große Teile der afghanischen Bevölkerung gegen die ausländischen Truppen und deren Befehlshaber auf. Da die Besetzungen Afghanistans mit immer wechselnden Zielen (Jagd auf Osama; Verteidigung der “demokratischen Strukturen” etc.) begründet wurde, offenbarte sich vor den Augen der Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit der wahre Hintergrund: Die Afghanistan-Politik des US-Imperialismus war nur ein Baustein in der von Bush nach dem Zerfall der Sowjetunion proklamierten “Neuen Weltordnung”. In einer strategisch wichtigen Region Zentralasiens, in unmittelbarer Nähe zu Russland und China, sollte ein imperialistischer Brückenkopf geschaffen werden.

Für den deutschen Imperialismus bot sich eine hervorragende Chance, an der Seite der US-amerikanischen Verbündeten endlich wieder massiv als ernstzunehmende Militärmacht aufzutreten. Es war ein Sozialdemokrat, der Bundesverteidigungsminister Peter Struck, der Ende 2002 proklamierte: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Es war die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die das militärische Engagement der Bundeswehr in Afghanistan durchsetzte.

Die Übergriffe der ISAF auf Zivilist*innen, die nächtlichen Überfälle auf “verdächtige” Häuser in Städten und Dörfern, die “Kollateralschäden” unter der Zivilbevölkerung (bis 2019 kamen rund 43.000 zivile Afghan*innen ums Leben, Zahlen von Verletzten liegen nicht vor) ließen sogar den korrupten Karzai mitunter aufbegehren. Der Luftangriff bei Kundus am 4. September 2009 führte zu einer Verschärfung der Kritik Karzais an den USA, einer Zunahme von Antikriegsprotesten in Deutschland und zum Rücktritt des CDU-Verteidigungsministers: Auf Anweisung des kommandierenden deutschen Offiziers Klein griffen NATO-Maschinen einen angeblichen Taliban-Konvoi an und töteten 142 Menschen, darunter viele Zivilisten und vor allem Kinder. Gleichzeitig gab es heimliche Kontakte zwischen Karzai und den Taliban, die jedoch geleaked wurden und scheiterten.

Die geopolitischen Ambitionen des US-Imperialismus und seiner Verbündeten wurden zusehends zu einem Fass ohne Boden. Berechnungen des Watson-Instituts der Brown-University for international and public affairs zufolge betragen die Gesamtkosten der Afghanistaninvasion für die USA seit 2001 2,26 Billionen US-Dollar, alleine die Kosten für Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Armee belaufen sich auf 83 Milliarden. Daneben nehmen sich die 12,5 Milliarden US-Dollar, die der deutsche Imperialismus ausgegeben hat, geradezu läppisch aus. Hartz-IV-Bezieher*innen sehen das vermutlich anders.

Nach der Ablösung Karzais durch seinen Finanzminister Aschraf Ghani 2014 zeichnete sich ab, dass der endlose Krieg in Afghanistan sowohl die einheimischen Kollaborateure als auch die imperialistischen Herren erschöpfte.

Es war Barack Obama, der mit einem langsamen Rückzug der amerikanischen Truppen begann. Die finanziellen Belastungen des Krieges wurden durch einen wichtigen innenpolitischen Faktor verschärft – die große Zahl der Veteranen, die, oft schwer traumatisiert, aus dem Krieg heimkehrten.

2021 beläuft sich ihre Zahl auf 750.000. Viele von ihnen sind arbeitslos. Die Zahl der Selbstmorde von aktiven und ausgeschiedenen Soldaten betrug zwischen 2001 und 2018 30.100 gegenüber 7.050 im Kampf gefallenen. So, wie sich ein Teil dieser Veteranen jetzt entschieden gegen die kriegslüsterne Politik des Imperialismus wendet, hat sich ein anderer Teil (auch in Deutschland) faschistischen Gruppen angeschlossen.

Als dann Donald Trump mit den Taliban einen Truppenabzug zu verhandeln begann, war offensichtlich, dass ein Paradigmenwechsel des US-Imperialismus stattgefunden hatte. “America first” bedeutete nicht nur einen Schwenk Richtung Isolationismus, sondern auch Kurs auf neue Handelskriege statt direkter kostspieliger militärischer Interventionen. Besonders zynisch war bei diesen Gesprächen, dass der gleiche Präsident, der Einreisebeschränkungen für Muslime verhängte, mit genau jenen Kräften paktierte, die 2001 als “Paten des Terrors” verteufelt worden waren.

Trumps Nachfolger Biden setzte den Truppenabzug fort, schneller, als zunächst geplant. Die Taliban waren verstärkt in die Offensive gegangen, die “staatliche” Armee zersetzte sich demoralisiert. Einzelne Warlords und die Nationale Widerstandsfront Afghanistans (Teile der alten Nordallianz) leisteten und leisten offenbar bewaffneten Widerstand.

Die Errichtung des Islamischen Emirats Afghanistan durch die Taliban stößt aber auch auf zivilen Widerstand: Demonstrationen gab es in Asadabad, der Provinz Kunar, Dschalalabad, im Pandschir-Tal und sogar in Kabul. Angehörige traditionell unterdrückter nationaler Minderheiten leisten Widerstand, weil sie die Ausrottung durch die Taliban fürchten.

Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Führer der bewaffneten Opposition sind – in Nuancen – ebenso islamistisch wie die Taliban. Es wäre falsch, aus einer Position des “kleineren Übels” heraus eine dieser Fraktionen zu unterstützen, ebenso wie es verlogen wäre, den Rückzug der NATO-Truppen zu bedauern, weil damit “der demokratische Weg” in Afghanistan verbaut wäre.

Die Tragödie der werktätigen und prekarisierten afghanischen Massen, der durch den Krieg Entwurzelten ist eine grausame Bestätigung der Theorie der permanenten Revolution: in halbkolonialen oder kolonialen Ländern ist die einheimische Bourgeoisie (im Bündnis mit den Großgrundbesitzern) nicht imstande, die Aufgaben der demokratischen Revolutionen zu erfüllen: Landreform, Zerschlagung des Großgrundbesitzes, grundlegende Freiheiten wie Koalitions- oder Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit etc.

Die parasitären und kriminellen Vertreter dieser herrschenden Klassen verbünden sich mit imperialistischen Mächten gegen die eigenen, bedrohlichen Massen, machen sich zu Handlangern derer Interessen.

Afghanistan zeigt mit aller Schärfe was passiert, wenn durch den stalinistischen Verrat keine revolutionäre Arbeiterpartei entsteht: die Massen werden zum Spielball verschiedener konterrevolutionärer Fraktionen und des Imperialismus, werden unterdrückt, die Frauen werden unterjocht, die Jugend verliert jede Chance auf Bildung.

Manche “Linke” sehen im Sieg der Taliban einen „Sieg der Volksmassen“ und einen “Sieg über den Imperialismus”. Ja, gewiss – das Ende dieser Phase der militärischen Intervention bedeutet eine Schwächung vor allem des amerikanischen Imperialismus. Aber die Taliban wollen ein islamofaschistisches Regime errichten. Momentan haben ihre Führer Kreide geschluckt, weil sie aus ihren vergangenen Fehlern gelernt haben.

Die Jahre des Taliban-Terrors, der korrupten Machtausübung durch die imperialistische Marionettenregierung Karzais und dessen Nachfolgers Ghani und die Bombardements des Landes haben zur Zerstörung der wichtigsten Infrastrukturen und der meisten Industrien geführt.

Neben kostbaren Industriemetallen wie Lithium verfügt Afghanistan über reiche Vorräte an Uran, Öl, Kohle, Gas, sogar Gold. Bisher ist jedoch nur ein kleiner Teil dieser Vorkommen erschlossen. Schon beginnt ein Wettrennen um Einfluss und Wirtschaftsverträge. Nach der ersten Machtergreifung der Taliban hatten Ökonomen der Weltbank die Wirtschaftsstruktur des Landes als “agrarische Opium-Drogen-Wirtschaft” charakterisiert. Die Kriegszerstörungen und die Massenflucht von qualifizierten Arbeiter*innen könnten zu einer Wiederbelebung dieser Wirtschaftsstruktur führen.

Es könnte aber auch zu einer ganz anderen Entwicklung kommen. Neben Regionalmächten wie der Türkei und Pakistan hat vor allem der junge und hungrige chinesische Imperialismus seinen Appetit gezeigt. Nur wenige Stunden nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul kündigte ein chinesischer Regierungssprecher eine “freundliche Kooperation” mit der Regierung des Emirats an.

Allerdings waren die bisherigen Wirtschaftsbeziehungen auf Grund der Instabilität des Landes für China wenig befriedigend. Etwa die Kupfermine von Mes Aynak: Trotz eines 2008 geschlossenen Abbaukontrakts zwischen zwei chinesischen Konzernen und der Regierung in Kabul kam es wegen Streitigkeiten über die Verarbeitung des Kupfers zu so gut wie keinem Abbau; damit wiederum scheiterte das Projekt einer Bahnverbindung zwischen den Häfen Hairatan und Torkham, um das Kupfer abzutransportieren.

Um Afghanistan in das “Neue Seidenstraßenprojekt” einzubinden bräuchte es Stabilität und Sicherheit. Trotz freundschaftlicher Signale aus Peking gibt es aber auch Grund zur Annahme, dass eine Kooperation mit den Taliban wegen deren Strahlkraft auf Islamisten in China von Teilen des Parteiapparats sehr kritisch gesehen wird.

Entscheidend wird sein, dass sich die durch Krieg und Flucht zahlenmäßig deutlich dezimierten Lohnabhängigen in Stadt und Land jetzt selbständig in Gewerkschaften und Stadtteil- und Dorfkomitees organisieren und selbst bewaffnen. Der Schutz gegen Warlords und Taliban steht auf der Prioritätenliste ganz oben. Die islamistischen Parteien haben gezeigt, dass sie ausschließlich den Klasseninteressen der verschwindend kleinen Schicht von Großgrundbesitzern und Kapitalisten dienen. Die DVPA hat gezeigt, wohin die Politik von Mehrklassenbündnissen führt. Positive Ansätze bei den Frauenrechten, der Bildung und der Industrialisierung wurden durch Kompromisse gegenüber der alten herrschenden Klasse zunichte gemacht, die sich die Unterstützung der imperialistischen Mächte sicherte.

Vor der kleinen pakistanischen Arbeiterklasse steht die immense Herausforderung, eine revolutionäre Arbeiterpartei bolschewistischen Typs aufzubauen, die im Rahmen des Kampfs für die Errichtung eines Arbeiter*innenstaats, der sich auf die Masse der kleinen Bauern stützt, gemeinsam mit ihren Klassenbrüdern in Pakistan und den angrenzenden Ländern eine Sozialistische Föderation Mittelasiens zu errichten.

Beitragsbild: © 2021 Wali Sabawoon/AP Images