Eine Niederlage des Imperialismus auf den Leichenbergen der Unterdrückten (Teil 1)

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Der folgende Artikel ist in der aktuellen Ausgabe unseres Zentralorgans KLASSENKAMPF (Nr. 44) erschienen. Aufgrund der Länge veröffentlichen wir den Text online in drei Teilen

Als der afghanische Präsident Aschraf Ghani Mitte August 2021 aus Kabul flüchtete, war damit symbolisch der Zusammenbruch der von ausländischen imperialistischen Mächten, allen voran den USA, Deutschland und Frankreich, gestützten Marionettenregierung vollzogen, die seit 2014 im Amt war.

Taliban-Verbände marschierten in Kabul ein. Die Bilder von Hubschraubern, die über der US-Botschaft amerikanische Staatsangehörige und lokale Kollaborateure aufnahmen und ausflogen erinnerten an ähnliche Bilder aus Saigon nach der Niederlage der US-Armee in Vietnam.

Aber Bilder können täuschen. In Vietnam sahen sich die imperialistischen Truppen einem Massenwiderstand in Form eines langwierigen Guerillakrieges gegenüber; die führende Kraft dieses Widerstandes war die vom Stalinismus geprägte Nationale Befreiungsfront, die mit ihrer antiimperialistischen und gegen die heimische Bourgeoisie und die Großgrundbesitzer gerichteten Rhetorik die Masse der ländlichen Bevölkerung hinter sich scharen konnte. In den Städten konnte die verbotene Kommunistische Partei Südvietnams nicht nur Arbeiter*innen, sondern auch Intellektuelle gewinnen.

Die offene Unterstützung der US-amerikanischen Regierungen seit den 50er Jahren für die brutale Diem-Diktatur in Südvietnam – ganz im Zeichen des Kalten Krieges – und dann die militärische Intervention ab August 1964 (“Tonkin-Zwischenfall”) führte zur Entstehung einer wachsenden Antikriegsbewegung in den USA, die sich in den späten 60er Jahren mit den Protesten der Schwarzen und der Jugend zu einer für die Herrschenden brisanten Mischung vereinigte.

Die Rahmenbedingungen in Afghanistan sind komplett unterschiedlich und gehen auf das Jahr 1979 zurück, als am 24./25. Dezember sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschierten.

Sechs Jahre zuvor, im Juli 1973, putschte General Mohammed Daoud, selbst Mitglied der Königsfamilie, gegen die Monarchie. Das Regime Zahir Shahs war nicht imstande, das Land wirtschaftlich oder gesellschaftlich zu modernisieren. 1973 betrug die Gesamtbevölkerungszahl des Landes rund 12,1 Millionen Menschen. Davon waren rund 100.000 in (relativ) modernen Industriebetrieben beschäftigt, 300.000 in kleinen Handwerksbetrieben. Der Rest der Bevölkerung lebte mehr oder minder schlecht von der Landwirtschaft. Wie in allen asiatisch-feudalistischen Gesellschaften fiel Reichtum und Macht mit der Kontrolle über die Bewässerung der Felder zusammen: 4% der Bevölkerung kontrollierten so 40% der nutzbaren Ländereien.

Die Integration in den Weltmarkt hatte zur Errichtung der ersten Fabriken und einem Anstieg des Bildungsniveaus geführt. Das Entstehen einer kleinen, aber klassenbewussten Arbeiterklasse und einer kritischen Intellektuellenschicht wurde von der Monarchie mit Repression beantwortet. Wachsende Proteste in den Städten führten 1964 zu einer “Öffnung” des Regimes und der Einführung einer neuen Wahlordnung. Das war für die herrschende Klasse als Ventil dadurch gefahrlos möglich, weil die traditionellen Führer der Dorfgemeinschaften die Wahlen manipulierten, Oppositionelle mundtot machten oder einfach selbst für das ganze Dorf die Stimme abgaben.

Die Ausnahme war die Hauptstadt Kabul, der urbane Unruheherd par excellence. Dort gründete sich 1965 die Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA). Die beiden zentralen Sprecher nach Außen waren der ehemalige Journalist, Schriftsteller und Diplomat Nur Muhammad Taraki und der Rechtsanwalt Babrak Karmal. Beide kamen aus ärmlichen Verhältnissen, obwohl sie der politisch dominierenden Volksgruppe der Paschtunen angehörten. In der DVPA bestanden von Haus aus zwei gegensätzliche Hauptströmungen – die Kalq (“Volks”)-Fraktion Tarakis und die Parcham (“Fahne”)-Fraktion Karmals. Taraki hatte im Lauf seiner Entwicklung (er hatte unter anderem für die US-Botschaft in Afghanistan gearbeitet) eine Wandlung hin zum Stalinismus vollzogen. Er orientierte die Kalq-Fraktion auf die Bildung einer Arbeiterpartei hin; Karmal, der bereits während seiner Zeit als Student in Kabul zum stalinistischen “Kommunismus” gefunden hatte, vertrat den “gemäßigten” Flügel, der einer klassischen stalinistischen Etappentheorie anhing. Die Arbeiter konnten ruhig noch ein bisschen warten, mit demokratisch gesinnten Elementen der Großgrundbesitzer und Kapitalisten sollte das Los der Bevölkerung verbessert werden.

Die Parcham-Fraktion führte als starkes Argument ins Treffen, dass sich Zahir Shah öffentlich zur Freundschaft mit der Sowjetunion bekannte und Wirtschaftshilfe ebenso akzeptierte wie private Geschenke aus dem Kreml. Allerdings war das nicht die reine Liebe – der König verhielt sich gegenüber den USA genauso…

Was den Aufbau der DVPA begünstigte war eine Welle von Streiks und Protesten ab dem Gründungsjahr der Partei: in den Bergwerken streikten die Arbeiter, die Beschäftigten der Elektrizitätswirtschaft folgten ihnen, und an der Universität Kabul boykottierten die Student*innen den Hochschulbetrieb und forderten demokratische Freiheiten.

Die Proteste tendierten dazu, in eine vorrevolutionäre Phase überzugehen. In dieser angespannten Situation entschloss sich der ehemalige Ministerpräsident, General und Mitglied der königlichen Familie Mohammad Daoud, zum Militärputsch. Massive Unterstützung bekam Daoud während und nach seiner Machtergreifung vom Parcham-Flügel der DVPA. War das nicht die von ihr erhoffte antiimperialistische Einheitsfront? Zum Dank für ihre Loyalität erhielt die Parcham-Fraktion sogar ein paar Ministerposten, darunter das Innenministerium. Die Kalq-Fraktion, die ihre Rivalen als “königlich-kommunistische Partei” lächerlich machte, konnte jedoch immer mehr an Boden gewinnen, je klarer sich zeigte, dass Daoud seine Versprechen – Bodenreform und Modernisierung der Landwirtschaft – nicht einhielt und zusehends zu den gleichen repressiven Mitteln gegen die Arbeiter und Studierenden griff wie der gestürzte König. Schon 1974 wurden die Parcham-Minister aus ihren Ämtern vertrieben, gleichzeitig ging Daoud klar auf Distanz zur Sowjetunion.

Außenpolitisch legte er sich mit dem Nachbarstaat Pakistan an, indem er umstrittene Gebietsansprüche geltend machte und belutschistanischen Untergrundkämpfer in Afghanistan Ausbildungslager gestattete. Im Gegenzug unterstützte die Regierung unter Zulfikar Ali Bhutto ab diesem Zeitpunkt die islamistischen Kräfte in Afghanistan, die sich gegen die Republik gewendet hatten. Da etliche Führer islamistischer Bewegungen, unter anderen Shah Massoud und Gulbuddin Hekmatyar nach Pakistan geflüchtet waren, gab es bald persönliche Beziehungen zwischen ihnen und dem Geheimdienst ISI.

Das Auseinanderklaffen der afghanischen Gesellschaft begünstigte das Wachstum der “wiedervereinigten” DVPA: im Juli 1977 schlossen sich Kalq und Parcham zusammen, obwohl die Kalq-Fraktion stärker war als die Parchamisten wurden die Sitze im Zentralkomitee 50:50 aufgeteilt. Es gibt keine verbindlichen Zahlen für die Stärke der Partei – die Angaben schwanken zwischen 8.000 und 50.000. Aufgrund ihrer Verankerung in der Arbeiterklasse und in der Armee stellte die DVPA aber eine wichtige politische Kraft dar.

Am 17. April 1978 wurde Mir Akbar Khyber, Universitätsprofessor in Kabul, ehemaliger Herausgeber der Zeitung Parcham und Führer der gleichnamigen Fraktion ermordet. Die Regierung Daoud machte für den Mord die islamistische Hizb-i Islāmī unter Führung von Gulbuddin Hekmatyar verantwortlich. Trotz seiner fraktionellen Bindung war Khyber auch für die Kalqisten eine Leitfigur, ebenso für die kritische Intelligenz. Spontan kam es zu Massendemonstrationen in der Hauptstadt (auch hier schwanken die Zahlen zwischen 15.000 und 50.000 Teilnehmer*innen), noch mehr Menschen nahmen an seiner Beisetzung teil.

Als Reaktion ließ Daoud in der Nacht vom 25. zum 26. April die Führer der DVPA Taraki und Karmal verhaften. Da mittlerweile allgemein davon ausgegangen wurde, dass hinter der Ermordung Khybers der berüchtigte antikommunistische Innenminister Nuristani stand, war die Partei im Alarmzustand. Hafizullah Amin, der Generalsekretär der Partei, rief zu sofortigen Protesten auf. Im zentralen Stadtpark Kabuls sammelten sich tausende Menschen und schwenkten rote Fahnen und Protestschilder gegen die Regierung Daouds.

Offiziere der Nationalarmee, die der DVPA angehörten, führten ihre Truppen gegen die Anhänger Daouds, in Dschalalabad kam es zum Schusswechsel zwischen Armeeeinheiten. Noch während der Protestkundgebung in Kabul feuerten von Rebellen geflogene MIGs Raketen auf den Präsidentenpalast ab und unterhielten durch aufständische Panzerverbände Unterstützung.

Die “Saur-Revolution” (Saur = April) war kein Ergebnis eines ausgetüftelten Umsturzplans, wie proimperialistische Medien gerne verbreiteten. Es war das Zusammenfallen einer breiten städtischen Protestbewegung mit der Selbstverteidigungsaktion einer von Repression bedrohten Partei, die in den Massen verankert war.

Diese Verankerung im städtischen Proletariat und der Intelligenz war Segen und Fluch der Saur-Revolution. Die DVPA stand seit ihrer Gründung unter starkem stalinistischen Einfluss – eine sozialistische Umgestaltung Afghanistans war daher nicht ihr Ziel. Sie fügte sich mit ihren – oft durchaus unterstützenswerten – Maßnahmen in den Raster verschiedener anderer bürgerlich-nationalistischer Strömungen (“arabischer Sozialismus” in Ägypten, “Linksperonismus”…) ein.

Im Ausland am stärksten wahrgenommen wurde die rechtliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern; Zwangsehen und Frauenkauf wurden verboten; im Zuge einer Alphabetisierungskampagne wurden Frauen besonders intensiv gefördert; bald waren mehr als 50 % der Studierenden in Kabul Frauen.

Die DVPA-Regierung erklärte das Land zu einem multinationalen Staat: Die Privilegien der Paschtunen wurden beseitigt, der staatliche Rundfunk strahlte erstmals Programme in den Sprachen der Minderheiten aus.

Das alleine waren schon Maßnahmen, welche die 300.000 islamischen Kleriker in Weißglut versetzten. Aber es kam noch schlimmer: Der Staat zog sich von allen religiösen Agenden zurück – freie Religionsausübung sollte allgemein möglich sein, aber ohne Zuwendungen oder Bevorzugung irgendeiner Religion. Zugleich wurde eine Landreform proklamiert, die das Elend am Land beseitigen sollte.

Die DVPA war in den Dörfern, wenn überhaupt, dann nur sporadisch vertreten. Die Landreform, so sie überhaupt in Angriff genommen wurde, stockte durch den Widerstand der Imame und Dorfältesten. Was in den Städten begeistert aufgenommen wurde, stellte für die alte asiatisch-feudalistische Ordnung eine lebensbedrohende Gefahr dar. Dorfälteste, Großbauern, Stammesführer, lokale Warlords sammelten sich um die sunnitischen Kleriker, die das ideologische Unterfutter für die Konterrevolution schneiderten: es gelte, die Gottlosen zu vernichten. Die Frauen sollten wieder dem Manne untertan gemacht werden. Dschihad wurde zum Weckruf des Widerstandes gegen die Regierung.

Die Regierung reagierte auf die wachsenden Proteste mit Gewalt. Statt zu versuchen, die Dorfarmut auf ihre Seite zu ziehen, schickte sie Truppen, die sich genauso aufführten wie seinerzeit die Armee des Königs und Daouds. Sie bombardierten widerspenstige Dörfer, ohne einen Unterschied zwischen Ausgebeuteten und Feudalherren, Bauern und Imams zu machen. “Niemand mag bewaffnete Missionare”, hatte Robespierre bereits 1791 erkannt. Diese Einsicht sollte sich fast 200 Jahre später in Afghanistan bestätigen.

Der wachsende Widerstand am Land und die Bildung bewaffneter islamischer Milizen, sogenannter Mudschahidin (Kämpfer), führte zum Aufbrechen strategischer Spannungen innerhalb der DVPA. Die Parchamisten forderten Mäßigung und die Eingliederung ehemaliger Daoud-Anhänger in die Regierung; die Kalqisten ließen daraufhin führende Parcham-Leute verhaften oder trieben sie ins Exil. Die sowjetischen Berater übten Druck auf Taraki aus, seinen scharfmacherischen Generalsekretär Amin zu beseitigen und einen versöhnlichen Kurs, wie ihn Parcham gefordert hatte, einzuschlagen. Mittlerweile unterzeichnete am 3. Juli 1979 US-Präsident Carter die ersten beiden Direktiven zur Unterstützung der afghanischen Mudschahidin mit einem Betrag von bis zu 695.000 US-Dollar für Propagandamaterial, Funkgeräte und medizinische Versorgung. Das war der Beginn der “Operation Cyclone”. Im Herbst weitete die CIA die Unterstützung für die Islamisten auf Druck des pakistanischen Präsidenten Zia weiter aus.

Der Versuch, Amin umzubringen, scheiterte – stattdessen wurde Taraki ermordet. Amin, der selbst immer am lautesten nach sowjetischem Beistand gerufen hatte, ahnte nicht, dass er selbst eines der ersten Opfer der eigenen Politik werden würde. Zwei Tage nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee, am 27. Dezember, starteten Spezialeinheiten der Roten Armee die Operation Sturm-333: Sie griffen den Präsidentenpalast in Kabul an, kämpften sich bis zum Amtssitz Amins vor und liquidierten diesen. Die Kremlführung setzte Babrak Karmal als neuen Regierungschef ein, holte Parcham-Führer aus dem Exil oder flog sie aus der UdSSR, wo sie Unterschlupf gefunden hatten, ein. Der Kalq-Flügel verlor seinen Einfluss, Armeeangehörige, die loyal zur alten Taraki-Regierung waren, wurden niedergekämpft.

Die Folgen dieses blutigen Machtwechsels verschärften die Krise: Soldaten, auch solche, die der DVPA angehört hatten, wandten sich von Karmal und seinen sowjetischen Auftraggebern ab, desertierten, schlossen sich der Mudschahidin an oder gingen nach Pakistan ins Exil.

[Der zweite Teil folgt in wenigen Tagen]