Seit dem 24. Februar tobt in der Ukraine ein Krieg, der Millionen von Menschen zur Flucht zwingt und Zehntausende Tote und Verletzte unter der Zivilbevölkerung und den Soldat*innen fordert. Der russischen Armee ist es nicht gelungen, die Hauptstadt Kiyv zu nehmen. Sie versucht nun, den gesamten Donbass einzunehmen, indem sie wie in Tschetschenien und Syrien eine Widerstand leistende Stadt nach der anderen durch Bombenangriffe zerstört. Dieser Krieg in Europa erinnert wie der Krieg im Jemen, der von Saudi-Arabien mit Zustimmung der Westmächte geführt wird, die Proletarier*innen in aller Welt daran, dass der Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium unweigerlich Kriege und Zerstörung hervorbringt, wenn die Mächtigen unaufhörlich um die Aufteilung und Neuverteilung der Welt kämpfen.
Die Ukraine ist ein wichtiger Streitpunkt zwischen den westlichen und den russischen Imperialismen. Im Jahr 2014 hatte die Ukraine die Mitgliedschaft in der EU und der NATO beantragt, was zu Lasten der früheren Beziehungen zu Russland ging. Doch der russische Imperialismus hatte mit der Annexion der Krim und der Kontrolle über einen Teil des Donbass bereits gezeigt, dass diese Situation für ihn unerträglich ist.
Für den russischen Staat bot die Priorität, welche die US-Regierung dem Kampf gegen den aufstrebenden chinesischen Kapitalismus einräumte, ihr teilweiser Rückzug aus den Ländern Europas und Westasiens sowie ihr ungeordneter Rückzug aus Afghanistan die Gelegenheit, die wirtschaftliche und militärische Umklammerung durch die westlichen Imperialismen zu lockern. Nachdem die westlichen Imperialisten klargestellt hatten, dass sie nicht militärisch eingreifen würden, schickte Putin seine Truppen los, um die Ukraine vollständig zu annektieren oder dort eine Marionettenregierung nach seinen Vorstellungen zu installieren. Am 21. Februar erklärte Putin: „Die Ukraine ist keine Nation, sondern eine Erfindung von Lenin und den Bolschewiki. Stalin versuchte, diese ‚verrückte Erfindung‘ zu reparieren, was ihm jedoch nicht gelang.“
Die internationalistischen Kommunist*innen stehen entschieden auf der Seite des beherrschten Landes gegen die Aggression einer imperialistischen Macht, wie es Lenin und Trotzki immer verteidigt haben. Die Verstärkung des Drucks der NATO auf Russland durch den Ausbau ihrer Militärbasen ist unbestreitbar, aber die interimperialistischen Rivalitäten rechtfertigen keinesfalls, dass die bloße Existenz der Ukraine infrage gestellt wird. Und die Aufgabe des ukrainischen Proletariats wie auch des Weltproletariats besteht darin, auf der Grundlage der Klassenunabhängigkeit dieses Recht auf Unabhängigkeit zu verteidigen. Gleichzeitig müssen die Proletarier*innen für die sozialistische Revolution in der Ukraine, für den Internationalismus und für die Föderation der Sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa kämpfen.
Die ukrainische Regierung ist eine notorisch korrupte bürgerliche Regierung, die ukrainische Armee ist eine bürgerliche Armee, die faschistische Bataillone eingegliedert hat. Aber internationalistische Kommunist*innen verteidigen die Ukraine bedingungslos gegen die russische imperialistische Aggression, so wie sie den Irak oder Serbien, die sich in den Händen bürgerlicher Nationalisten befunden haben, gegen die Aggressionen der US-geführten Koalition der imperialistischen Mächte verteidigt haben. Sie haben ebenso das arabische Volk Palästinas gegen die zionistische Kolonisierung trotz des bürgerlichen Charakters der Führung der palästinensischen Nationalbewegung (Fatah, Hamas) unterstützt, genauso, wie sie den Krieg im Jemen verurteilen, der vom monarchischen und antisemitischen Arabien, das mit den „demokratischen“ Imperialisten verbündet ist, geführt wird.
Weder gestern noch heute ist diese Unterstützung des beherrschten Landes, das Opfer des Imperialismus ist, gleichbedeutend mit einer Unterstützung seines Regimes, seiner Regierung oder einer Unterstützung für Selenskij.
Eine revolutionäre Perspektive zur Verteidigung der Ukraine
Der russische Imperialismus rechtfertigt seine Aggression mit dem Vorwand eines „Völkermords“ an der russischsprachigen Minderheit, die in der Ukraine, insbesondere im Donbass, lebt. In Wirklichkeit werden die Rechte und Freiheiten von Minderheiten von den verschiedenen Imperialismen je nach ihren Interessen benutzt. Im Jahr 2014 verfolgte die ukrainische Regierung die „russische“ Minderheit und arbeitete daran, ihre Verbindungen zu den europäischen und amerikanischen Imperialismen zu stärken.Der russische Imperialismus seinerseits nutzte diese Unterdrückung, um 2014 einerseits die Krim zu annektieren und andererseits die Regionen Donezk und Lugansk im Donbass – auch durch massive militärische Unterstützung – zur Sezession zu drängen. Die Minderheitenrechte der „ukrainischen“ und tatarischen Minderheiten werden dort nicht respektiert.
Mit Lenin unterstützen wir die Achtung der Mehrsprachigkeit und der gleichen Rechte aller nationalen Minderheiten, einschließlich des Rechts auf Autonomie oder Abtrennung. Aber unter keinen Umständen darf diese Berufung auf die unantastbaren Rechte von Minderheiten zu irgendeiner Nachgiebigkeit gegenüber der russischen imperialistischen Invasion führen.
Die internationalistischen Kommunist*innen sind für die Niederlage des russischen Imperialismus in der Ukraine. Die Ukraine hat das Recht, sich Waffen zur Selbstverteidigung zu beschaffen, auch wenn der US-amerikanische und der europäische Imperialismus, die sie liefern, ihre eigenen Ziele verfolgen. Diese bestehen darin zu verhindern, die Ukraine unter ihrem Einfluss zu belassen. Eine Niederlage der Ukraine würde die Zerschlagung des ukrainischen Proletariats, die Stärkung des russischen Imperialismus und die Stärkung von Putins Diktatur über das russische Proletariat bedeuten. Umgekehrt würde eine Niederlage des russischen Imperialismus den Weg für einen Aufstand des russischen Proletariats ebnen und gleichzeitig dem ukrainischen Proletariat die Möglichkeit geben, sich selbst zu organisieren und für seine eigenen Ziele selbst zu kämpfen! Das ist unsere Perspektive!
Der US-amerikanische und der europäische Imperialismus haben eine ganze Reihe von Sanktionen gegen Russland verhängt, ohne so weit zu gehen, die Gas- und Öllieferungen zu unterbinden, die für die europäischen Kapitalismen nach wie vor unverzichtbar sind. Sie machen ein großes Getöse um das Einfrieren der Vermögenswerte russischer Oligarch*innen. Dieses Einfrieren ist aber keine Enteignung durch das russische Proletariat und kann dank verschiedener Steuerparadiese relativ leicht umgangen werden. Wirtschaftssanktionen wie das Embargo gegen bestimmte russische Importe und Exporte oder die finanziellen Beschränkungen, die zum Verfall des Rubels führen, treffen in erster Linie die russische Bevölkerung und führen beispielsweise dazu, dass Tausende von Arbeiter*innen in den Automobilfabriken arbeitslos werden. Sie bedrohen gleichermaßen die Arbeiter*innen der ganzen Welt.
Außerdem nutzen die westlichen Imperialismen die Situation, um ihre Militärbudgets zu erhöhen und die NATO-Militärbasen um Russland herum auszubauen. Die USA haben 20.000 zusätzliche Soldaten nach Europa geschickt, der französische Imperialismus hat Kontingente von Soldaten nach Rumänien entsandt usw.
Die Aufrechterhaltung des Imperialismus ist eine Geißel für die Menschheit!
Der Krieg in der Ukraine ist ein Wendepunkt in der Weltlage. Er konfrontiert den russischen Imperialismus, der sich die Unterstützung des chinesischen Imperialismus geholt hat, mit den US-Imperialist*innen und den wichtigsten europäischen Imperialismen. Diese achten sehr darauf, die dünne Grenze nicht zu überschreiten, die sie von einer direkten Beteiligung an dem Konflikt trennt, aber dieser Krieg könnte in einen interimperialistischen Krieg umschlagen. Der für Putin untragbare Stillstand der russischen Armee in der Ukraine kann in der Tat zu einer Eskalation der eingesetzten militärischen Mittel führen und so einen interimperialistischen Krieg beschleunigen.
Die Invasion erhöht die bereits beträchtliche Zahl der Vertriebenen weltweit auf über 90 Millionen. Der Krieg in der Ukraine hat bereits dramatische wirtschaftliche Folgen in vielen beherrschten Ländern, aber auch für die Proletarier*innen und alle verarmten Schichten in den entwickelten Ländern. Infolge der Unterbrechung der Versorgung mit Getreide aus der Ukraine und Russland, aber auch mit Düngemitteln, verschiedenen Mineralien wie Nickel usw., explodieren die Preise für diese Güter. Durch Spekulationen wird das noch verschärft. So wird in vielen Ländern Westasiens oder Nordafrikas das Brot knapp oder unerschwinglich. Die Preise für Gas und Öl, für die Russland einer der größten Lieferanten ist, setzen ihre wilde Kursentwicklung fort. Die Inflation beschleunigt sich, sie erreicht 8,5 % in den USA, fast 10 % in Spanien, über 61 % in der Türkei, über 55 % in Argentinien, in Algerien dürfte sie über 20 % betragen … und lässt Löhne, Renten, Sozialleistungen und sonstige Unterstützungszahlungen schmelzen, wenn es sie denn überhaupt gibt. Die Zentralbanken erhöhen die Zinssätze für ihre Darlehen an Banken, das Wachstum verlangsamt sich, die Anzeichen für eine mögliche neue globale kapitalistische Krise mehren sich. Dies verstärkt die Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten und zwischen den Regionalmächten. Die Last des Militarismus drückt durch die Erhöhung der Militärbudgets immer schwerer auf die Werktätigen. Während die Kapitalist*innenklasse den Planeten unaufhaltsam in eine ökologische und klimatische Katastrophe stürzt, will sie ihre Profitrate sichern, indem sie die Rechnung für den Krieg und die Krisen auf die Arbeiter*innen und die Bevölkerung der beherrschten Länder abwälzt. Religiöse Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und die Verfolgung von Geflüchteten und Migrant*innen werden offen von den bürgerlichen Regierungen verwendet, um Polizei und Militär aufzurüsten, Freiheiten zu beschneiden und soziale Proteste zu kriminalisieren.
Eine revolutionäre Arbeiter*inneninternationale aufbauen!
Die ukrainischen Gewerkschaftsbürokraten der UPF und der KVPU unterstützen Selinski, so wie die “kommunistische” Partei der Russischen Föderation KPRF Putin unterstützt. Die Ausrichtung der wichtigsten Gewerkschaftsführer*innen und der reformistischen Parteien (SPD, Labour Party, PS, PCF, PSOE, DSA …) auf die NATO, die direkte oder indirekte Unterstützung des russischen Imperialismus durch andere reformistische Parteien (Partido dos Trabalhadores, verschiedene „kommunistische“ Parteien) lässt die Arbeiterklasse weltweit gelähmt und ohne eigene Perspektive gegen den Krieg in der Ukraine zurück. Er hat sie in den Rahmen der Unterstützung des eigenen Imperialismus oder einer bloßen Solidarität mit den Opfern des Krieges gezwängt.
Dabei könnte die Mobilisierung des Weltproletariats den Krieg beenden, könnte den Weg für das russische Proletariat ebnen. In Russland wurden Demonstrationen gegen den Krieg gewaltsam niedergeschlagen, aber Jugendliche griffen dort auch Rekrutierungsbüros der Armee an. In der Ukraine hat der Chauvinist Selenski die Oppositionsparteien verboten, das Parlament hat Gesetze zum Schutz der Arbeiter*innen ausgesetzt und Streiks verboten. Eine revolutionäre ukrainische Arbeiterpartei würde sich an die Soldaten der russischen Armee wenden, um sie gegen ihre Regierung und ihren Staat zu richten.
Gegen diese Klassenkollaboration der korrupten Arbeiterbürokratien fordern internationalistische Kommunist*innen die Gewerkschaftsführungen und reformistischen Parteien auf, mit der Bourgeoisie zu brechen. Um den Imperialismus zu besiegen und seine Kriege zu beenden, müssen Arbeiter*innen ihre Parteien und Gewerkschaften zur Bildung einer Einheitsfront unter folgenden Losungen organisieren:
- Russischer Imperialismus raus aus der Ukraine!
- Keine Unterstützung für die NATO oder irgendeinen europäischen oder US-amerikanischen Imperialismus!
- Abzug der Truppen der westlichen Imperialismen aus Mitteleuropa!
- Abzug der US-Truppen aus ganz Europa!
- Auflösung der NATO! Nieder mit den Wirtschaftssanktionen, die vor allem das russische Proletariat treffen!
- Für die sozialistische Revolution in der Ukraine ebenso wie in Russland!
- Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa – von Lissabon bis Wladiwostok!
Die Arbeiter*innen in aller Welt brauchen eine revolutionäre Arbeiter*inneninternationale, die sie aus der Umklammerung durch die Führer*innen der reformistischen Parteien und Gewerkschaftsbürokrat*innen befreit, die das Gift der parlamentarischen Illusionen, des Chauvinismus und von Kompromissen mit ihrer Bourgeoisie oder ihrem Imperialismus verspritzen.
Gleitende Lohnskala – Anpassung der Löhne an die Inflation! Arbeiter*innenkontrolle über die Tätigkeit der grundlegenden Dienstleistungen und Unternehmen und über die Schließung derjenigen, die nicht lebenswichtig sind! Enteignung der kapitalistischen Konzerne! Arbeiter*innenregierung auf der Grundlage von Arbeiter*innenräten, Zerstörung des bürgerlichen Staates und Auflösung der Berufsarmee, der polizeilichen Repressionskorps und der faschistischen Banden durch die bewaffneten Arbeiter*innen! Von der Bevölkerung beschlossener Produktionsplan zur Befriedigung der sozialen Bedürfnisse bei gleichzeitigem Schutz der Umwelt und der Zukunft der Menschheit! Für eine sozialistische Weltföderation!
18. Juni 2022
Kollektiv Permanente Revolution (Frankreich, Österreich, Spanischer Staat, Türkei)
Provisorisches Komitee für den Wiederaufbau der Internationalen Trotzkistischen Opposition