Offener Brief an die revolutionären Organisationen und Aktivist*innen in aller Welt über die argentinische Frage

Man muss den Massen die bittere Wahrheit sagen – klar und ohne Umschweife.
(Wladimir Lenin, „Über den linken Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus, 5. Mai 1918, Werke Bd. 27, Progress, 1974, S. 345)

Im November 2023 wurde Javier Milei in der Stichwahl mit 55,6 % der Stimmen zum Präsidenten gewählt; zwei Jahre später gewann seine Partei die Parlamentswahlen vom Oktober 2025 mit fast 41 % der Stimmen. Wie lässt sich das erklären? Die Arbeiter*innenklasse ist seit fast einem Jahrhundert in einem bürgerlich-nationalistischen Bewegungssystem gefangen. Es ist an der Zeit, sie davon zu befreien!

1941–1945: Die reformistischen Parteien ebnen dem Bonapartisten Perón den Weg

Seit dem Ersten Weltkrieg fungiert die PS je nach Situation als Flügel der einen oder der anderen Bourgeoisie.
Die PCA verhält sich seit Mitte der 1930er-Jahre ebenso. 1942 verurteilen die CGT-Führung, die PS und die PCA die Streiks und drängen darauf, dass Argentinien an der Seite der Vereinigten Staaten (damals Verbündete der UdSSR) in den Krieg eintritt – während die Mehrheit der Bourgeoisie und des Generalstabs auf Neutralität setzt.

1943 übernimmt das Militär die Macht. 1945 bilden die PS und die PCA mit der bürgerlichen UCR einen Block (Unión Democrática) gegen Oberst Juan Perón, der die Präsidentschaftswahl gewinnt. Die peronistische Partei gewinnt eine Massenbasis und bringt sogar die CGT unter ihre Kontrolle [siehe Tavernier & Laurent (Chesnais), Argentine, pour un bilan du péronisme, September 1976].

1951: Die „trotzkistische“ Bewegung als Opfer der senilen Demenz der antiimperialistischen Einheitsfront

Die IV. Internationale war 1933 gegen genau diese Art von Verrat der degenerierten sozialistischen und kommunistischen Parteien ins Leben gerufen worden – gegen jede Unterordnung unter die Bourgeoisie, auch und gerade in den abhängigen Ländern.

„Wir stehen in dauernder Konkurrenz mit der nationalen Bourgeoisie… In allen Fällen, in denen sie sich direkt den ausländischen Imperialisten oder ihren faschistischen Agenten entgegenstellt, geben wir ihr unsere volle revolutionäre Unterstützung – wobei wir die vollständige Unabhängigkeit unserer Organisation bewahren… unter der Bedingung, dass unsere Organisation nicht der APRA [Peru], der GMD [China] oder dem PRM [Mexiko] beitritt.“
(Leo Trotzki, „Diskussion über Lateinamerika“, 4. November 1938, Œuvres, ILT, 1985, S. 132–133)

Doch nach dem Zweiten Weltkrieg kapitulierten die argentinischen Anhänger der IV. Internationale ihrerseits vor einer „nationalen“, „antiimperialistischen“ Fraktion ihrer eigenen Bourgeoisie. Zunächst ging der Impuls von der pablistischen Führung der IV. Internationale aus (Pablo, Mandel, Frank, Maitan…), die zwischen 1949 und 1951 ihr Programm revidierte – mit Billigung der US-amerikanischen SWP – und zwar in zwei zentralen Punkten: Korrektur der stalinistischen Bürokratie, Eintritt in bürgerlich-nationalistische Bewegungen, besonders in Lateinamerika – also in die APRA in Peru, die MNR in Bolivien, die AD in Venezuela, die PTB in Brasilien, und in Argentinien Anschluss an die „peronistischen Arbeiter*innen“… (Die Kongresse der 4. Internationale, Bd. 4, La Brèche, 1989, S. 184–185, 288–289)

Kopfzeile von Palabra Obrera: Opportunismus gegenüber dem Peronismus

Palabra Obrera (Arbeiterwort), 19. Januar 1961, von Moreno präsentiert sich als „Organ des revolutionären Arbeiterperonismus unter der Führung von General Perón”.

Im Gegenzug brachte Lateinamerika selbst revisionistische Führer hervor, die ihren Opportunismus und Revisionismus auf kontinentaler, teils sogar globaler Ebene verbreiteten:

  • in Bolivien Guillermo Lora (1922–2009),
  • in Argentinien Juan Posadas (1912–1981) und
  • Nahuel Moreno (1924–1987).

Der Posadismus (Lateinamerikanisches Büro der „IV. Internationale“, später die „IV. Posadistische Internationale“) und der Morénismus (Lateinamerikanisches Sekretariat des „orthodoxen Trotzkismus“ SLATO, danach die FB innerhalb der „IV. Internationale“ von Mandel, Hansen und Moreno, und schließlich Morenos LIT-„IV. Internationale“) verhielten sich wie politische Chamäleons – mal maoistisch, mal peronistisch, dann wieder castristisch oder sozialistisch…

Aus den argentinischen PRT-PST-MAS des verstorbenen Moreno sind die PTS, die MST, die NMAS, die IS, die NPST, die COR, die DO, die PCO usw. hervorgegangen.

Die bolivianische POR von Lora beeinflusste 1966 die Entstehung der argentinischen Gruppe Política Obrera (PO von Jorge Altamira), die sich positiv den pro-castristischen Kräften des PRT-PST von Moreno entgegenstellte (die zu diesem Zeitpunkt Mitglieder der pablistischen „IV. Internationale“ von Mandel und Hansen waren). Política Obrera knüpfte in den 1970er Jahren – wie ihr Mentor, die POR Loras – enge Bande zur französischen OCI der Lambertisten, die formale Orthodoxie mit praktiziertem Reformismus vermischte. In den 1980er Jahren versank die Partido Obrero (PO, der neue Name von Política Obrera) vollständig im Opportunismus; nichts unterschied sie mehr von dessen morenistischer Variante. So entstanden die heutigen PO, die heutige Política Obrera und die heutigen argentinischen Ableger des POR.

Ein vergiftetes Erbe der Revisionist*innen ist die Wiedereinführung einer demokratischen Etappe der Revolution (weshalb sie sogar in Ländern mit bürgerlicher Demokratie auf die Parole einer verfassunggebenden Versammlung zurückgreifen – wo diese vollkommen reaktionär wird). Ein weiteres Erbe ist die völlige Unfähigkeit, zwischen Arbeiter*innenbewegung und bürgerlichem Nationalismus zu unterscheiden.

Wir werden die Einheit der Arbeiter*innenbewegung wiederherstellen… Wir Sozialist*innen erkennen an, dass die verbreitete und organische Unterstützung für Perón über Jahre hinweg die politische Einheit der Arbeiter*innen gegen die Gorillas [reaktionäre Putschisten gegen Perón, seine PJ und seine Regierungen] formte. Die Krise des Peronismus hat diese Einheit der Arbeiter*innen zerstört… Deshalb ruft die MAS die Arbeiter*innen, die Aktivisten und die führenden Gewerkschafter des Peronismus auf, die politische Einheit unserer Klasse herzustellen, indem sie die große Arbeiter*innenpartei schaffen. (MAS, Programa, Juli 1985, S. 25)

Der Zentrismus ist unfähig, die konkrete Situation konkret zu analysieren. Er sucht seine Irrwege und Wendungen nachträglich anhand der Ereignisse zu rechtfertigen. Das reicht von dersophistischen Variante, die Moreno durch Gramsci ersetzt (PTS), bis zum hysterischen Tercermonidialismo (Dritt-Weltlerei) eines manipulativen Gurus (DO). Dazwischen tobt der Streit um das Erbe Morenos – eines Mannes, der so viele verschiedene und einander widersprechende Positionen vertreten hat, dass man die freie Auswahl hat, um entweder den eigenen Opportunismus zu rechtfertigen oder den der Konkurrenz anzuprangern (NMAS, IS, MST…).

Die meisten opportunistischen Führer erfinden, um vor ihren Mitgliedern den praktischen Reformismus durch revolutionäre Phrasendrescherei zu verschleiern, eine imaginäre Welt, in der sich die Weltwirtschaftskrise seit … 1929 ununterbrochen vertieft.

Permanente Krisen gibt es nicht. (Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, 1861–1863, Éditions sociales, 1975, Bd. 2, S. 592)

In diesem radikalen Scheinauftritt ist jede politische Krise „beispiellos“ und „ausweglos“. Für die meisten Organisationen, die sich „trotzkistisch“ nennen, ist China immer noch ein Arbeiter*innenstaat, Islamisten führen Revolutionen, Trump und Milei hätten keinerlei Massenbasis… Die tatsächlichen Probleme, die das Proletariat lösen muss, verschwinden durch die Magie der Worte.

Aanderseits versuchen Revolutionäre zuweilen den Beweis zu führen, daß es absolut keinen Ausweg aus der Krise gebe.

Das ist ein Irrtum. Absolut ausweglose Lagen gibt es nicht. (…) Wir müssen jetzt durch die Praxis der revolutionären Parteien „beweisen“, daß sie genügend Bewußtheit, Organisiertheit, Verbindung mit den ausgebeuteten Massen, Entschlossenheit und Fähigkeit besitzen, um diese Krise für eine erfolgreiche, für eine siegreiche Revolution auszunutzen.
(W. Lenin, „Referat über die internationale Lage und die Hauptaufgaben der Kommunistischen Internationale“, 19. Juli 1920, Werke, Bd. 31, Berlin, 1961, S. 2155)

Mit Ausnahme der PRS-PCO hat keine Organisation die Lehren aus den Erfahrungen von 2001–2002 gezogen. Aber sie blieben auf halbem Weg stecken, indem sie mit dem CoReP brachen.

2021: Eine revolutionäre Krise – ohne Programm

Im Jahr 2001 erschütterte eine wirtschaftliche Krise, die sich in eine revolutionäre Krise verwandelte, den argentinischen Kapitalismus. Keine revolutionäre Lösung konnte sich durchsetzen. Die reformistischen Parteien (PS, PCA, PCR…) und die angeblich „trotzkistischen“ (PTS, PO…) blieben vollständig im Rahmen des Populismus („Que se vayan todos“ und cacerolazos) und im Rahmen des bürgerlichen Staates (Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung, die angesichts der Umstände „revolutionäre“ verfassungsgebende Versammlung getauft wurde).

Dezember 2021, in einem Land mit bürgerlicher Demokratie, konzentrieren sich die PTS und die PO auf die verfassungsgebende Versammlung.

Wie die bürgerlichen Peronist*innen, die poststalinistische PCA, die Maoist*innen, die Guevarist*innen und die Bakuninist*innen verfügen mehrere „trotzkistische“ Organisationen seit der revolutionären Krise von 2001 über eigene „Piquetero“-Organisationen, die vom bürgerlichen Staat finanziert werden und die Sozialhilfe an ihre Mitglieder verteilen.

Eine weitere Folge der revolutionären Krise von 2001 ist, dass sich PO und PTS – die beiden wichtigsten Organisationen aus der Degeneration der IV. Internationale – stärken und gute Wahlergebnisse erzielen. Aufgrund der vom Staat eingeführten juristischen Hürden bilden sie 2011 ein Wahlbündnis, die Front der Linken (sic) und Arbeiter*innen (FIT). Heute umfasst sie PTS, PO, MST und IS.

Weit davon entfernt, die Krise der revolutionären Führung des Proletariats zu lösen, spalten sich diese Parteien ständig über Nebenfragen. Keine von ihnen ist vom Typus der Bolschewistischen Partei von 1907–1921. In den entscheidenden Punkten teilen PTS, PO, MST und IS mit den verräterischen Parteien, die aus der Sozialdemokratie (PS) oder dem Stalinismus (PCA, PCR) hervorgegangen sind, den Legalismus, den Pazifismus und den Opportunismus gegenüber einem Teil der Bourgeoisie, der als „kleineres Übel“ dargestellt wird.

Die Kommunisten sind die Partei der Bewaffnung des Volkes, die Partei des Aufstands, wenn der Moment gekommen ist. Die Reformisten hämmern den Arbeitern systematisch die Vorstellung ein, daß die hochheilige Demokratie dann am besten gesichert ist, wenn die Bourgeoisie bis an die Zähne bewaffnet ist und die Arbeiter entwaffnet. Es ist die Pflicht der IV. Internationale, ein für allemal mit dieser unterwürfigen Politik Schluß zu machen. (IV. Internationale, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale, September 1938)

Der FIT, alle deren Bestandteile sich betrügerisch auf den Gründer der Roten Armee berufen, weigert sich, sich fürdie Selbstverteidigung auszusprechen. Die NMAS ist keinen Deut besser.

Trotz mehr als einer Million Stimmen, Demonstrationen und Kundgebungen mit Tausenden findet man vergeblich eine gewerkschaftliche Strömung der FIT-U, die gegen die korrupte Bürokratie kämpft.

2002: Die Wiederauferstehung des Peronismus

Die Partido Justicialista Nacional de la República Argentina (Justizialistische Partei, PJ), die wichtigste traditionelle Partei der Bourgeoisie – die seit dem Machtantritt des aus dem Militär stammenden Bonapartisten Perón 1944 über eine Basis in der Bevölkerung verfügt –, gelingt es, wieder das Ruder zu übernehmen. Sie stützt sich dabei auf die Gewerkschaftsbürokratie und zerstreut bzw. integriert die mächtige Bewegung der Arbeitslosen (piqueteros), die entstanden war.

Die aufeinanderfolgenden Regierungen von Duhalde (Koalition PJ-UCR) und der Kirchners (Koalitionen um die PJ) sind selbstverständlich außerstande, das Land aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit zu befreien – was nur durch die Mobilisierung des Proletariats und die kontinentalen Ausdehnung der Revolution möglich wäre. Wie die meisten Länder Lateinamerikas versinkt Argentinien in der Spezialisierung auf den Export von Rohstoffen: Bergbau, Energie und Landwirtschaft. Der einzige Unterschied ist, dass China beginnt, auf Kosten der Vereinigten Staaten in Argentinien Fuß zu fassen – mit Billigung der peronistischen Regierungen.

Als 2023 eine neue Wirtschaftskrise ausbricht (der BIP-Rückgang beträgt 1,6 % im Jahr 2023 und 1,7 % im Jahr 2024), begleitet von einer galoppierenden Inflation (der Preisindex steigt um 135,4 % im Jahr 2023 und um 219 % im Jahr 2024), werden die Karten bei der Präsidentschaftswahl neu gemischt – allerdings zugunsten einer bürgerlichen Lösung, die sich in die weltweite reaktionäre Welle einfügt. Es existiert kein sozialistisches Projekt, das von einer Arbeiter*innenpartei vom Typ der Bolschewistischen Partei getragen wird, um eine Alternative zum Kapitalismus und zum diskreditierten Peronismus zu eröffnen.

2022: Das Attentat auf Kirchner enthüllt den Opportunismus von PTS und PO

Angesichts des Attentats eines verwirrten Individuums auf Kirchner (damals Vizepräsidentin) im Jahr 2022 stimmen die FIT-U-Abgeordneten im Parlament der Provinz Buenos Aires – darunter nationale Führungsmitglieder des PTS sowie der Hauptführer der PO, Solano – für die von den peronistischen bürgerlichen Parteien eingebrachte Resolution.

Diese Niedertracht wird von Révolution Permanente (RP), der Schwesterorganisation des PTS in Frankreich, verschleiert. RP spaltet sich zur selben Zeit von der NPA ab und begründet die Spaltung damit, dass die Gelbwesten den Beginn einer „neuen Periode“ markiert hätten – selbstverständlich einer Phase steigender Klassenkämpfe.

2023: Der „Anti-Kasten“-Kandidat siegt

Ein bis dahin am Rand des etablierten bürgerlichen Parteiensystems agierender bürgerlicher Demagoge, Javier Milei, tritt als Kandidat der LLA (seiner „libertären“ Partei) an. Milei ist Ökonom aus dem reaktionärsten Flügel der bürgerlichen „Wirtschaftswissenschaft“ (den Neoklassikern der Menger- und Hayek-Schule), die selbst die Abschaffung der Zentralbank propagieren, um eine freie Konkurrenz privater Bankwährungen zu ermöglichen.

Unter dem Banner der „Freiheit“ will Milei einzig die Freiheit des Kapitals erweitern – die Freiheit auszubeuten, zu betrügen, die Umwelt zu verschmutzen. Die Freiheit der Ausgebeuteten will er einschränken. Milei und die LLA stehen den demokratischen Freiheiten feindlich gegenüber und sind Nostalgiker der Militärdiktatur. Der Demagoge führt Wahlkampf gegen „die Kaste“ der früheren Regierungen (Kirchner und Macri).

Im Jahr 2023, in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, hat die Kandidatin der FIT-U (Bregman, PTS) nichts über die Ersetzung der Berufsarmee durch die Bewaffnung des Volkes (die Teil des Mindestprogramms aller von Marx und Engels Ende des 19. Jahrhunderts unterstützten Parteien war) zu sagen , noch zur Zerschlagung des bürgerlichen Staates (ein entscheidender Teil des Programms der Kommunistischen Internationale) oder zur Selbstverteidigung der Massen gegen die Polizei und faschistische Banden (eine der Achsen des Übergangsprogramms der Vierten Internationale).


Die Reformisten hämmern den Arbeitern systematisch die Vorstellung ein, daß die hochheilige Demokratie dann am besten gesichert ist, wenn die Bourgeoisie bis an die Zähne bewaffnet ist und die Arbeiter entwaffnet. (IV. Internationale, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale, September 1938)

Stattdessen fordern die Kandidaten der FIT-U Bregman und del Caño eine verfassungsgebende Versammlung (die für die Vierte Internationale nur in Ländern wie Indien und China in den 1930er Jahren Sinn machte und sich gerade in Ländern wie Tunesien oder Chile, in denen bereits Wahlen stattfinden, als schädlich erwiesen hat). In der zweiten Runde stehen sich zwei bürgerliche Kandidaten gegenüber (Milei von der LLA und Massa von der PJ). Die PO ruft zu einer leeren Stimmabgabe auf, die PTS ruft dazu auf, „nicht für Milei zu stimmen“, ohne jedoch Massa zu unterstützen, die IS, die MST und die NMAS rufen dazu auf, „gegen Milei zu stimmen“, also für Massa. Keine der Parteien spricht sich für einen Boykott aus.

Milei wird in der zweiten Wahlrunde im November 2023 trotz der offenen Unterstützung der Arbeiterbewegung (Gewerkschaftsführungen, PS, PCR, PCE, IS) für den bürgerlichen Gegenkandidaten (PJ) mit großem Vorsprung gewählt.

2024: Staatliche Angriffe auf die Massen, Unterstützung des zionistischen Genozids, Öffnung für ausländisches Kapital

Einmal an der Macht, zusammen mit der Pro und der UCR (die zuvor selbst Teil der „Kaste“ gewesen waren), geht Milei systematisch gegen Demonstrationen vor. Er richtet sich gezielt gegen migrantische Arbeiter*innen. Zugleich beginnt er, die sozialen Errungenschaften zu demontieren, die während früherer revolutionärer Aufstände erkämpft worden waren.

Im Oktober 2024 führte die Regierung ein Anreizsystem für Großinvestitionen (RIGI) ein.

Die Regierung schränkt das Recht auf Empfängnisverhütung und Abtreibung ein. Milei unterstützt vorbehaltlos den israelischen Genozid in Gaza.

Die Gewerkschaftsbürokratien der CGT und der CTA haben, wie überall sonst auch, einige Aktionstage ausgerufen und lenkten, wie so oft, die Unzufriedenheit der Arbeiter*innen in die Richtung von Druck auf das Parlament, in dem die bürgerlichen Parteien die Mehrheit haben, oder auf die Erwartung einer Rückkehr einer peronistischen Regierung nach künftigen Wahlen. Ihre Ablenkungsmanöver wurden jedes Mal von den reformistischen (PSA, PCA, PCR) oder semi-reformistischen Parteien (FIT-U etc.) unterstützt.

Streiks fanden zwar statt, blieben jedoch isoliert und konnten die Exekutive nicht ernsthaft infrage stellen. 2024 und 2025 ging die Streikaktivität zurück: Im Juni 2025 war die Zahl der Streikenden innerhalb eines Jahres um 34 % gesunken, die Anzahl der Streiktage um 28 % (Ministerium für Humankapital, 1. Juli).

2024: FIT und NMAS werden vom Peronismus aufgesaugt

Alle diese Organisationen unterstützten 2024 die von den Gewerkschaftsbürokratien der CGT und der CTA verordneten begrenzten Arbeitsniederlegungen (die sie, wie die peronistischen Bürokraten selbst, als „Generalstreik“ ausgaben), anstatt für einen echten Generalstreik bis zum Rückzug der Angriffe von Milei (Haushaltskürzungen, Dekret über den Ausnahmezustand DNU, Omnibus-Gesetz…) zu kämpfen.

Es geht darum, von unten zu organisieren, indem Versammlungen an den Arbeitsplätzen initiiert werden, um CGT und CTA zu zwingen, zu einem aktiven nationalen 36-Stunden-Streik aufzurufen. (PTS, 22. Mai 2025)

Die Forderung nach einem 36-Stunden-Streik und einem Aktionsplan. (PO, 1. Oktober 2025)

Forderung an die CGT nach einem 36-Stunden-Streik und einem nationalen Aktionsplan. (IS, 11. September 2025)

Worin besteht der „Aktionsplan“? Jedenfalls hat ein im Voraus auf 36 Stunden begrenzter Streik wenig mit dem zu tun, was Luxemburg als „Massenstreik“ und Trotzki als „Generalstreik“ bezeichnete.

Der Generalstreik ist die Antwort des Proletariats, das die Bankrotterklärung des Kapitalismus weder akzeptieren will noch kann… Darin liegt die grundlegende Bedeutung des Generalstreiks: Er stellt klar die Frage nach der Macht. Ein echter Sieg des Generalstreiks kann nur durch die Übernahme der Macht durch das Proletariat und die Errichtung seiner Diktatur erreicht werden. (Leo Trotzki, „Vorwort zur französischen Ausgabe“, 6. Mai 1926, Wohin geht England?, Librairie de l’Humanité, 1926, S. 11)

Das was geschah, sind nicht Korporativstreiks. Das sind überhaupt nicht Streiks. Das ist ein Streik. Das ist der offene Zusammenschluss der Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Das ist der klassische Anfang der Revolution.

(Leo Trotzki, „Die Französische Revolution hat begonnen“, Juni 1936, Der Generalstreik in Frankreich, GMI, 2019, S. 25)

Am 11. April bilden Abgeordnete des FIT-U (darunter der Hauptführer des PTS, Castillo) unter dem Vorwand, gegen Milei zu ermitteln, einen Fraktionsblock mit Elementen der peronistischen Koalition in der Abgeordnetenkammer. Dies wurde den Arbeiter*innen*innen in Frankreich von RP sorgfältig verschwiegen.

Am 10. Juni bestätigt der Oberste Gerichtshof die Urteile von 2022 (als Milei noch Abgeordneter war) und 2024 gegen Kirchner (bekannt als „CFK”): Verurteilung zu 6 Jahren Haft und Verbot jeglicher Kandidatur.

Die Opportunisten interpretieren den Fall als Verfolgung einer Arbeiter*innenorganisation durch einen bürgerlichen Staat.

Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen neuen Dreyfus-Fall. Niemand stellt die Gesetze infrage, die das Plündern öffentlicher Gelder durch politische Führungskräfte über zwölf Jahre verbieten, noch die vom Gericht festgestellten Tatsachen – das heißt die persönliche Bereicherung Kirchners und ihrer Familie auf Kosten des argentinischen Volkes.

Und dennoch haben wir hier zwei große Banden von politischen Spekulanten, die abwechselnd die Staatsmacht in Besitz nehmen und mit den korruptesten Mitteln und zu den korruptesten Zwecken ausbeuten – und die Nation ist ohnmächtig gegen diese angeblich in ihrem Dienst stehenden, in Wirklichkeit aber sie beherrschenden und plündernden zwei großen Kartelle von Politikern. (…) (Friedrich Engels, „Einleitung zu Der Bürgerkrieg in Frankreich“, 1891, Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 22, S. 197)

Izquierda Web n° 680, 26 juin 2025, p. 4

Die Richter gestatten Kirchner, ihre Strafe nicht im Gefängnis, sondern zu Hause zu verbüßen. Für die NMAS reicht dies nicht aus. Demokratische Gesetze dürfen nicht auf die PJ angewendet werden. Er drängt die korrupte bürgerliche Partei, das Urteil zu ignorieren.

Die Ablehnung des Verbots hätte mit der Forderung einhergehen müssen, dass der Peronismus und CFK sich weigern, sich dem Verbot zu unterwerfen – ein Slogan, den allein der Neue MAS innerhalb der Linken verteidigte.
(Juan Cruz Ramat, 26. Juni 2025)

FIT-U-Führer solidarisch mit der Verurteilten Cristina Kirchner

10. Juni 2025, Sitz der PJ: Die Führer der PTS (rechts im Bild: Cristian Castillo, Nicolás del Caño, Myriam Bregman…) und der MST (links im Bild: Alejandro Bodart, Celeste Fierro…) bekunden ihre Unterstützung für die bürgerliche Partei

Die MST und die PTS entsenden am 10. Juni eine gemeinsame Delegation zum Sitz des PJ. Die Führung der PTS besucht sie am 12. Juni sogar persönlich, um ihr Beistand zu leisten.

18 Juni, , Buenos-Aires, Plaza de Mayo, die NMAS, PO und PTS demonstrieren nach dem Aufruf der PJ

Am 18. Juni demonstrieren der PTS, der PO und der NMAS in Buenos Aires zusammen mit der bürgerlichen Partei von Kirchner gegen das Urteil, das ihre Kandidatur verhindert.

Dieses beschämende Bündnis mit einer bürgerlichen Partei wird von der PCdL in Italien, RIO in Deutschland der LI und CTR im Spanischen Staat, von RP und SoB in Frankreich sorgfältig verschwiegen, ebenso wie die Tatsache, dass ihre US-amerikanischen Pendants tief in der sozialdemokratischen Flügel der Demokratischen Partei (Sanders, Ocasio-Cortez, Mamdani…) eingebunden sind, die versuchen, der Demokratischen Partei neues Leben einzuhauchen.

Ergebnis der Lagislativ- und Senatswahlen am 26. Oktober

Das Parlament bleibt zu 99 % in den Händen verschiedener bürgerlicher Parteien. Der Präsident und seine Listen LLA (diesmal unter Einbeziehung der Pro) profitieren von der verbesserten wirtschaftlichen Lage (für 2025 wird ein Wachstum von 5,2 % erwartet, die Inflation soll auf 36,6 % zurückgehen). Die Regierung wird durch die Konsultation zur Halbzeit der Legislatur gestärkt, bei der die Hälfte der Abgeordneten und ein Drittel der Senatoren erneuert werden.

Der PJ ist ebenso destabilisiert wie die Demokratische Partei in den USA oder LR nach der Gaullisten-Ära in Frankreich. LLA erzielt bei den legislativen Wahlen fast 41 % der Stimmen, also 7 % mehr als die bürgerliche Koalition FP unter Führung des peronistischen PJ; bei den Senatswahlen 42 %, also fast 4,3 % mehr als die FP. Damit erhält die Präsidentschaftspartei 55 zusätzliche Sitze im Abgeordnetenhaus (insgesamt 93) und 13 weitere Senatoren (insgesamt 19). Mit seinen Verbündeten der Republikanischen Vorschlag-Partei (Pro) und der Radikalen Bürgerunion (UCR) kann er nun auf 110 Abgeordnete (von insgesamt 257) und 28 Senatoren (von 72) zählen.

SP und die maoistische PCR hatten aufgerufen, für den bürgerlichen Wahlblock FP unter Führung des PJ zu stimmen. Die PCA stellte einige Kandidat*innen auf und unterstützte sonst FP.

Bei den vorherigen Wahlen kündigte die FIT-U ihre Kandidaturen in einer Pressekonferenz an und legte ein Programm vor (mit quasi-reformistischem Inhalt). Diesmal führte der FIT-U Wahlkampf, ohne ein nationales Programm zu präsentieren. Er erhielt 3,9 % der Stimmen bei den lLegislativwahlen und 2,7 % bei den Senatswahlen und verlor einen Abgeordnetensitz.

Zwei weitere opportunistische Organisationen (PO, NMAS) stellten ebenfalls einige Kandidat*innen auf, auf einer Linie, die Pazifismus à la Gandhi und parlamentarische Illusionen à la Boric verband.

„Genug von der Polizei bei den Mobilisierungen. Wenn keine Polizei anwesend ist, gibt es keine Repression, keine Verletzten, keine Inhaftierten. Unbedingte Verteidigung des Rechts auf sozialen Protest und der Menschenrechte… Souveräne verfassungsgebende Versammlung zur Schaffung eines antikapitalistischen Argentiniens.“ (NMAS, Ein antikapitalistisches Manifest für Argentinien, 17. September 2025)

Die NMAS-Kandidatin in der Provinz Buenos Aires, Manuela Castañeira, erhielt nur 0,56 % der Stimmen, während die beiden Kandidat*innen des FIT-U insgesamt 5,04 % erzielten.

Obwohl die Wahl formal verpflichtend ist, stimmte ein Drittel der Eingetragenen weder für die bürgerlichen Parteien (LLA, FP, PU, IF…), noch für die „trotzkistische“ FIT-U-Koalition.Dies zeigt die konjunkturelle Distanzierung eines bedeutenden Teils der Massen gegenüber den bürgerlichen Parteien und den Wahlen. Aber das ist an sich nichts Radikales oder Progressives.

Zu allererst: ein Programm, eine Strategie, eine Partei!

Genug mit den rein wahlorientierten Blöcken! Genug mit den leeren Formeln („die Linke“, „Aktionsplan“, „souveräne verfassungsgebende Versammlung“)! Genug mit der Kapitulation vor dem Peronismus! In Argentinien wie in den USA gilt es, die Gelegenheit zu nutzen, sich von der verrotteten bürgerlichen Partei zu distanzieren, die sich diskreditiert hat und als Sprungbrett für reaktionäre Populisten diente. Es muss die Parole des Bruchs der Gewerkschaften und der Organisationen der Unterdrückten mit den Ausbeutern ausgegeben werden, um eine Massenarbeiterpartei auf der Grundlage eines Klassenkampfprogramms zu bilden.

Vorübergehend gestärkt durch die Wahlergebnisse und eine sehr umfangreiche finanzielle Soforthilfe von Trump wird die Regierung Milei versuchen, ihre Angriffe auf die Arbeiterklasse zu verstärken.

Gleichzeitig wollen die imperialistischen USA die kolonialistische Kontrolle über Kuba zurückgewinnen, das sich bereits unter der Führung seiner eigenen Regierung auf die vollständige Wiederherstellung des Kapitalismus zubewegt, und ganz Amerika unterwerfen (derzeit bedrohen sie Venezuela, Mexiko und Kolumbien militärisch und üben Druck auf Kanada aus, damit es sich den USA anschließt, sowie auf Dänemark, damit es Grönland abtritt), um sine Position zu stärken und die Konfrontation mit dem imperialistischen chinesischen Staat vorzubereiten.

Es ist dringend notwendig, dass die revolutionären Aktivist*innen der Organisationen des verwässerten Trotzkismus, des neo-reformistischen Post-Maoismus, des Guevarismus ohne Bauernkrieg… mit Opportunismus und Sektierertum brechen, mit Pazifismus und Unterordnung unter den bürgerlichen Peronismus, und sich am Aufbau einer Partei bolschewistischen Typs zu beteiligen – an den Arbeits- und Ausbildungsstätten, in den Arbeiter*innenvierteln und auf dem Land, gegen die peronistischen Bürokrat*innen in Gewerkschaften, Frauen- und Studierendenorganisationen. Diese Partei kann nur im Rahmen einer neuen kommunistischen Internationale entstehen.

20. November 2025

Kollektiv Permanente Revolution