Metaller-Lohnverhandlungen/Hohnverhandlungen: Ein neuer Verrat der Gewerkschaftsbürokratie

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So tönt die Führung der PRO-GE am 4. November 2022:

„Die Kollektivvertragsverhandlungen für rund 200.000 Beschäftigte und Lehrlinge der Metallindustrie wurden am 3. November mit dem Fachverband Metalltechnische Industrie (FMTI) fortgesetzt. Nach 12 Stunden erreichten die Gewerkschaften PRO-GE und GPA kräftige und nachhaltige Lohnerhöhungen. Die Ist-Einkommen werden um bis zu 8,9 Prozent angehoben. Die KV-Mindestlöhne steigen um 7 Prozent. Die Lehrlingseinkommen steigen in drei Etappen bis November 2024 auf 1.050 Euro (1. Lehrjahr), 1.270 Euro (2.), 1.625 Euro (3.) und 2.110 Euro (4. Lehrjahr).“

Und so klang es am 2. November 2022: 

„‘Unsere Forderung nach 10,6 Prozent mehr Lohn und Gehalt ist weiter aufrecht. Falls auch am 3. November nichts weitergeht, wird es nächste Woche in den Betrieben zu Arbeitsniederlegungen kommen’, sagt der Chefverhandler der Gewerkschaft PRO-GE, Rainer Wimmer“.

  1. Eine Tragödie aus dem ÖGB-Repertoire

Dem vorausgegangen war ein ritualisiertes Schauspiel, das wir alle seit Jahren bis zum Erbrechen kennen.

1. Akt: Die Gewerkschaft legt bei der ersten Verhandlungsrunde zum Metaller-KV am 4. Oktober ihre Forderung – 10,6% Lohnerhöhung auf die bestehenden Gehälter. Erstmals wird eine zweistellige Erhöhung genannt – die Gewerkschaftsführung erklärt, man wolle dadurch die aktuelle September-Inflationsrate berücksichtigen.

Auftritt Fachverband Metalltechnische Industrie: Dessen Obmann Christian Knill prophezeit den Ruin seiner Branche, wenn die Gewerkschaft nicht das großzügige Angebot von +4,1 auf die derzeitigen KV-Löhne annehme. Stattdessen bieten die Metall-Kapitalisten „Einmalzahlungen“ an – die Almosenmentalität der türkis-grünen Bundesregierung lässt grüßen!

2. Akt: „Sicherheitshalber“ kündigt die PRO-GE (und die Transportgewerkschaft VIDA, bei der KV-Verhandlungen bei den ÖBB anstehen) Betriebsrätekonferenzen an. Vor der Verhandlungsrunde am 17. Oktober trommelt sie 600 Betriebsräte aus Niederösterreich, Wien und dem Burgenland in Oberwaltersdorf zusammen. PRO-GE-Vorsitzender Wimmer erklärt, „jetzt sind die Arbeitnehmer mit kräftigen Lohnerhöhungen dran“.

Die Kapitalistenvertreter stellen sich taub – auch bei der zweiten Verhandlungsrunde bessern sie ihr Angebot nicht nach. Einen Tag später, am 18., beginnen die KV-Verhandlungen für die rund halbe Million Handelsangestellten. Am 22. Oktober erklärt Wimmer im Ö1 Morgenjournal, gegebenenfalls würde die Gewerkschaft den Unternehmern helfen, die Schlüssel zu den verschlossenen Geschäftsbüchern zu suchen, aus denen sich die gute Auftragslage der Branche und die Profite ermitteln ließen. 

Intermezzo: Am 29.10. veröffentlicht die Statistik Austria eine Schnellschätzung, der zu Folge die Inflation im Oktober bei 11% liegt.

3. Akt: Am 3. November gibt es in St. Pölten wieder eine Betriebsrätekonferenz, diesmal mit 2.000 Teilnehmer*innen. Unter anderem wird mit zunächst dreistündigen Betriebsversammlungen und dann mit Streiks gedroht, wenn die Unternehmer nicht endlich auf die Forderungen der Gewerkschaft eingehen. Dort fallen die eingangs zitierten denkwürdigen Worte des PRO-GE Oberbürokraten Wimmer: „Unsere Forderung nach 10,6 Prozent mehr Lohn und Gehalt ist weiter aufrecht. Falls auch am 3. November nichts weitergeht, wird es nächste Woche in den Betrieben zu Arbeitsniederlegungen kommen“. Parallel dazu demonstrieren im 4. Wiener Gemeindebezirk Mitglieder der Jugendorganisationen von PRO-GE und GPA vor der Wirtschaftskammer für saftige Erhöhungen der Lehrlingsentschädigungen.

Epilog: In der Nacht vom 3. zum 4. November verkünden die „Chefverhandler“ der PRO-GE und der GPA den „Sieg“. „Kräftige und nachhaltige“ (!) Lohnerhöhungen seien erreicht worden. Fehlt nur noch das Wort „achtsame“ …

Die KV-Löhne steigen um 7% (die Formulierung „die Ist-Einkommen werden um bis zu 8,9 Prozent angehoben“ verschleiert, dass das nur einen Teil der Beschäftigten betrifft. Die Anhebung der Lehrlingsentschädigungen ist überhaupt ein Zwei-Jahres-Plan – das lässt für die nächsten KV-Verhandlungen nichts Gutes erwarten.

  1. Hase und Igel oder: wir humpeln der Inflation hinterher

Wie war das doch gleich mit den 10,6 %, die die Gewerkschaft gefordert hatte? Die Sache wird klar, wenn wir uns den triumphierenden Tweet von GPA-Sprecher Daniel Gürtler anschauen: „WIR HABEN EINEN ABSCHLUSS. Heute früh lag das Angebot bei 4,1%, gerade haben wir mit bis zu 8,9% abgeschlossen! Die zugrundeliegende Inflation von 6,3% ist mehr als ausgeglichen. Der Abschluss bedeutet praktisch ein zusätzliches Monatsgehalt für alle“.

Genau hier liegt die Crux der gewerkschaftlichen Lohnpolitik: Sie orientiert sich nicht an der aktuellen Inflation, sondern an der durchschnittlichen Inflationsrate des vergangenen Jahres. Heißt: Während die österreichischen Arbeiter*innen, Angestellten, Lehrlinge, Pensionist*innen entsetzt auf explodierende Energiekosten schauen, immer weniger für ihr (oft in mehreren Jobs) hart erarbeitetes Geld konsumieren können, durch Mietwucher von Obdachlosigkeit bedroht werden, freuen sich Gewerkschaftsbürokraten, dass sie wenigstens die Teuerung vom Vorjahr ausgleichen konnten!

Gerade jetzt, wo weltweit die Inflation neuerlich zu einer Bedrohung der sozialen Lage der Arbeitenden wird, müssen andere Wege gefunden werden, um die Verelendung der Massen zu verhindern. Dazu gehört die gleitende Lohnskala, also die automatische Anpassung der Löhne an die Teuerung. Das ist weder eine neue Forderung noch eine unrealisierbare (wie wir unten zeigen werden). 1938, am Vorabend des 2. Weltkrieges, formulierte Leo Trotzki im „Übergangsprogramm“ der IV. Internationale:

Gleitende Skala der Löhne und der Arbeitszeit

Unter den Bedingungen des sich zersetzenden Kapitalismus führen die Massen weiter das düstere Leben von Unterdrückten, die jetzt mehr denn je von der Gefahr bedroht sind, in den Abgrund des Pauperismus geworfen zu werden. Sie sind gezwungen, ihr Stück Brot zu verteidigen, wenn sie es schon nicht vergrößern oder verbessern können. Es besteht weder Möglichkeit noch Notwendigkeit, hier all die verschiedenen partiellen Forderungen aufzuzählen, die jeweils aus den konkreten nationalen, lokalen und beruflichen Bedingungen hervorgehen. Aber zwei wirtschaftliche Grundübel, in denen sich die wachsende Sinnlosigkeit des kapitalistischen Systems zusammenfaßt, nämlich die Arbeitslosigkeit und die Verteuerung des Lebens, erfordern verallgemeinerte Losungen und Kampfmethoden.

Die IV. Internationale erklärt die Politik der Kapitalisten einen unversöhnlichen Krieg, einer Politik, die zu einem beträchtlichen Teil – genauso wie die Politik ihrer Agenten, der Reformisten, – in dem Versuch besteht, auf die Arbeiterschaft die ganze Last des Militarismus, der Krise, der Zerrüttung der Geldsysteme und andere Übel des kapitalistischen Niedergangs abzuwälzen. Sie fordert Arbeit und eine würdige Existenz für alle.

Weder Inflation der Währung noch Stabilisierung können dem Proletariat als Losungen dienen, denn das sind nur die zwei Gesichter ein und derselben Medaille. Gegen die Teuerung, die mit dem Herannahen des Krieges einen immer zügelloseren Charakter annehmen wird, kann man nur kämpfen mit der Losung der Gleitenden Lohnskala. Die Tarifverträge müssen die automatische Erhöhung der Löhne gleichlaufend mit den Preissteigerungen der Verbrauchsgüter garantieren.

Will es sich nicht selbst dem Untergang ausliefern, dann darf das Proletariat nicht dulden, daß ein wachsender Teil der Arbeiterschaft zu chronisch Arbeitslosen, zu Elenden gemacht wird, die von den Krümeln einer sich zersetzenden Gesellschaft leben. Das Recht auf Arbeit ist das einzig ernsthafte Recht, das der Arbeiter in einer auf Ausbeutung begründeten Gesellschaft besitzt. Ihm wird jedoch in jedem Augenblick dieses Recht genommen. Gegen die Arbeitslosigkeit – sowohl die strukturelle wie die konjunkturelle – ist es an der Zeit, neben der Parole der öffentlichen Arbeiten die Losung der Gleitenden Skala der Arbeitszeit auszugeben. Die Gewerkschaften und andere Massenorganisationen müssen diejenigen, die Arbeit haben, und diejenigen, die keine haben, durch die gegenseitige Verpflichtung zur Solidarität verbinden. Auf dieser Basis muß die verfügbare Arbeit unter alle vorhandenen Arbeitskräfte aufgeteilt und so die Dauer der Arbeitswoche bestimmt werden. Der Durchschnittslohn jedes Arbeiters bleibt der gleiche wie bei der bisherigen Arbeitswoche. Der Lohn, mit einem fest garantierten Minimum, folgt der Bewegung der Preise. Kein anderes Programm ist für die jetzige Periode der Katastrophen annehmbar.

Die Besitzenden und ihre Anwälte werden die „Unmöglichkeit der Verwirklichung“ dieser Forderungen darlegen. Die Kapitalisten von geringerer Statur, insbesondere diejenigen, die dem Ruin entgegengehen, werden außerdem auf ihre Buchführung verweisen. Die Arbeiter werden kategorisch diese Argumente und Empfehlungen abweisen. Es handelt sich nicht um den „normalen“ Zusammenstoß entgegengesetzter materieller Interessen. Es geht darum, das Proletariat vor Verfall, Demoralisierung und Ruin zu bewahren. Es geht um Leben und Tod der einzig schöpferischen und fortschrittlichen Klasse und damit um die Zukunft der Menschheit selbst. Wenn der Kapitalismus unfähig ist, die Forderungen zu befriedigen, die unausweichlich aus den Übeln hervorgehen, die er selbst erzeugt hat, dann soll er untergehen! Die „Möglichkeit“ oder „Unmöglichkeit“, diese Forderungen zu verwirklichen, ist hierbei eine Frage des Kräfteverhältnisses, die nur durch den Kampf gelöst werden kann. Auf der Grundlage dieses Kampfes werden die Arbeiter – was auch immer seine unmittelbaren praktischen Erfolge sein mögen – am besten die Notwendigkeit begreifen, die kapitalistische Sklaverei zu liquidieren.

  1. Gleitende Lohnskala – keine Utopie

Tatsächlich haben die Arbeiter*innen verschiedener Länder diese automatische Angleichung der Löhne an die Teuerung zumindest über einige Jahrzehnte durchsetzen können: In Frankreich gab es sie von 1952 bis 1982, in Italien erzwangen die Arbeiter*innen 1945 die „Scala mobile“, die bis 1992 bestand und erst von einer sozialdemokratisch geführten Regierung nach jahrelangen Angriffen der Kapitalist*innen beseitigt wurde. 

In Luxemburg gibt es seit 1921 eine „Indexierung“ genannte Anpassung der Löhne an die Inflation – zuerst nur für die Eisenbahner, dann, ganz wesentlich, 1936 durch massive gewerkschaftliche Kampfaktionen auch in der Metallindustrie. Seit 1965 ist die Automatik in allen Kollektivverträgen verpflichtend, seit 1972 werden die Löhne automatisch angehoben, wenn die Inflation 2,5% übersteigt. Seit 1975 gilt diese Regelung in allen Branchen und auch für die Pensionen. Als Anfang der 80er Jahre die Stahlkrise voll auf Luxemburg durchschlug, wurden in „sozialpartnerschaftlicher Manier“ tausende Metallarbeiter auf die Straße gesetzt und stattdessen der „Finanzplatz Luxemburg“ aufgebaut. Die Unternehmer*innen witterten Morgenluft und gingen zur Offensive über. Sie forderten das Ende der Indexierung. Während die sozialpartnerschaftlichen Sozialdemokraten ruhig blieben, rief die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes und der Eisenbahner für den 5. April 1982 zu einem eintägigen Streik gegen diesen Angriff auf die Löhne und Pensionen auf. Die Resonanz war so gewaltig, dass die Dynamik in Richtung des Generalstreiks ging. Die Unternehmer*innenverbände zogen den Schwanz ein, die Indexierung war gerettet. Allerdings gibt es kontinuierliche Angriffe auf diese Regelung – sie ist eine „umkämpfte Bastion“ der Arbeiter*innen. Aber – und hier schließt sich der Kreis: Die gleitende Lohnskala ist möglich, es ist makaber, wenn sich die Gewerkschaftsbürokratie mit der Ausrede, man könne ja nie wissen, wie die Inflation weiterginge, gegen die gleitende Lohnskala ausspricht.

Die Angst vor dieser Forderung lässt sich wohl nur dadurch erklären, dass sie nur umsetzbar ist, wenn es eine breite Mobilisierung in den Betrieben gibt. Das heißt: Die gleitende Lohnskala muss dem Kapital durch den Klassenkampf abgerungen werden. Wie Trotzki 1938 richtig argumentierte, geht die gleitende Lohnskala mit der Forderung nach der gleitenden Arbeitszeitskala (im Sinne von: Aufteilung der Arbeit auf alle Hände bei vollem Lohnausgleich) Hand in Hand. 

Die Gewerkschaftsbürokratie ist unfähig, diesen Kampf zu organisieren – sie beweist das jedes Jahr, bei jeder KV-Runde, aufs Neue. Sie ist voll und ganz in die Logik des kapitalistischen Systems und des bürgerlichen Staates eingebunden. Seine Existenz, sein Gedeihen ist für sie wichtiger, als die Interessen der Gewerkschaftsmitglieder. Diese bezahlen mit ihren Mitgliedsbeiträgen zwar die Gehälter der Bürokraten – diese genießen aber durch die Integration in diverse Kommissionen und staatliche Gremien oder Doppelfunktionen als Parlamentarier oder Lokalpolitiker zusätzliche Privilegien. Sie sind der Transmissionsriemen der kapitalistischen Interessen in die Arbeiter*innenklasse.

  1. Für demokratische, klassenkämpferische Gewerkschaften!

Der Kampf für die gleitende Lohnskala und die Aufteilung der Arbeit auf alle wird also zugleich der Kampf für tatsächlich demokratische, also unter Kontrolle der Arbeiter*innen, stehende Gewerkschaften sein. Das heißt: regelmäßige Wahl der Funktionär*innen, die auch jederzeit abwählbar sein müssen; Deckelung der Einkommen von Gewerkschaftsfunktionär*innen – niemand darf mehr verdienen als ein durchschnittliches Facharbeiter*innengehalt! Tatsächliche Einbeziehung der Mitgliedschaft in die Gewerkschaftsarbeit – Aufbau von Gewerkschaftsgruppen in allen Betrieben, Aufbau von Jugendgruppen, die neben den wirtschaftlichen auch die politischen und kulturellen Interessen der arbeitenden und lernenden Jugend vertreten!

Parallel dazu ist natürlich die Bildung von Aktionskomitees und Basisgruppen in den Betrieben möglich, wenn die Beschäftigten entweder nicht gewerkschaftlich organisiert sind oder, auf Grund ihrer Erfahrungen, nach anderen Wegen der Selbstorganisierung suchen. 

Sprechen wir es offen aus: Der KV-Abschluss, entgegen der Versprechungen auf den BR-Konferenzen, war ein Verrat der Gewerkschaftsbürokratie an den Interessen der Metaller*innen. Und es ist ein Verrat, der katastrophale Folgen haben kann. Wir sehen seit dem Ausbruch der Corona-Krise, wie faschistoide und faschistische Kräfte versuchen, die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Maßnahmen der Regierung und der verschiedenen Interessensvertretungen (egal, welcher Klasse sie zugehörig sind) auszunutzen und zur Speerspitze einer autoritären Wende zu machen.

Wenn die Gewerkschaften und die in ihnen dominierende Sozialdemokratie weiter die Verteidigung des Kapitalismus dem Einsatz für die Interessen der Lohnabhängigen vorziehen, treiben sie verzweifelte und politisch weniger bewusste Teile der arbeitenden Bevölkerung in die Arme der faschistoiden Rattenfänger. 

Die einzige Antwort auf die Krise kann und muss die entschlossene und geschlossene Front der Lohnabhängigen gegen Lohnraub, Teuerung, und Sozialabbau sein. Wichtig wird es sein, die Kräfte, die diesen Weg gehen wollen, zu organisieren – nicht nur in Österreich, sondern weltweit!