Jugendliche töten, weil das System Amok läuft

Die Eilmeldungen aus Graz vom 10. Juni 2025 erschütterten quer durchs Land die Menschen: Ein junger Mann, gerade einmal 21 Jahre alt, stürmt in seine ehemalige Schule und richtet ein Blutbad an. Elf Menschen – fast alle Jugendliche – sind tot, viele weitere verletzt. Danach nimmt sich der Täter das Leben. Es ist das schwerste Schulmassaker in der Geschichte Österreichs.

Die ersten Berichte zeichnen das Bild eines ehemaligen Schülers, der die Schule vor einigen Jahren verlassen hatte – vermutlich, weil er gescheitert ist. Er soll gemobbt worden sein, habe sich zurückgezogen.. Man kennt diese Geschichte – aus vielen Ländern, in leichten Varianten. Und das ist vielleicht das Erschütterndste daran.

Denn das, was in Graz passiert ist, ist nicht nur ein furchtbares Verbrechen – es ist auch ein Symptom einer Gesellschaft, die immer mehr junge Menschen allein lässt. Der Täter war kein Monster aus einer anderen Welt. Er war ein Mensch aus unserer Mitte, aufgewachsen in unserem Bildungssystem, in unserer Stadt, in unserer Zeit. Was ist also geschehen?

Ein Gefühl von Wertlosigkeit

In einer Gesellschaft, in der alles gemessen wird – Noten, Leistung, Erfolg, Beliebtheit, Einkommen –, fühlen sich viele junge Menschen, die diesen Normen nicht entsprechen, als „Versager“. Wenn du in der Schule nicht mithalten kannst, wenn du kein Ziel vor Augen hast, wenn du nicht in das Bild des erfolgreichen, durchgestylten und leistungsbereiten jungen Menschen passt, dann wirst du über kurz oder lang an den Rand gedrängt. Das geschieht nicht immer sichtbar. Oft passiert es still: durch Gleichgültigkeit, Abwertung, Isolation.

So wird Schule – die eigentlich ein Ort der Entwicklung sein sollte – für viele zum Ort der Entfremdung. Wer nicht funktioniert, fliegt raus. Wer nicht „dazugehört“, wird gemobbt. Und wer Hilfe braucht, fällt oft durch das Netz.

Der amerikanische Export des Amoklaufs

Es ist kein Zufall, dass diese Art von Gewalttaten zuerst in den USA zur „Form“ wurde. Dort sind Waffen leicht verfügbar, soziale Isolation ist allgegenwärtig, und die kommerzialisierte Popkultur ist voller Gewaltfantasien. Doch was früher wie ein „amerikanisches Problem“ wirkte, ist längst global geworden. Auch in Europa häufen sich Taten wie diese. Denn was wir erleben, ist eine Krankheit der kapitalistischen Gesellschaft selbst: Entwurzelung, Konkurrenz, Vereinzelung.

Es gibt mittlerweile Dutzende gut dokumentierte Fälle, in denen Täter sich direkt auf frühere Amokläufer bezogen. Sie studieren ihre Vorbilder, hinterlassen Manifeste, manchmal Videos. Das Ziel: gesehen zu werden. Berühmt zu werden – auch wenn es der Ruhm des Grauens ist.

Entfremdet und bewaffnet

Gerade junge Männer stehen dabei im Fokus. Der Druck, „stark“ und „erfolgreich“ zu sein, frisst sich tief in ihr Selbstbild. Wer diesem Ideal nicht entspricht, erlebt oft eine Mischung aus Scham, Wut und Orientierungslosigkeit. Wenn dann noch soziale Isolation, familiäre Probleme oder Mobbing hinzukommen, entsteht eine explosive Mischung.

An diesem Punkt greifen einige zu Waffen – in der wahnhaften Hoffnung, sich „Respekt zu verschaffen“. Nicht aus heiterem Himmel, sondern weil sie gelernt haben, dass Gewalt Aufmerksamkeit erzeugt. Dass man sich in dieser Welt etwas nehmen muss, wenn man nichts bekommt.

In vielen Fällen hatten die Täter legale oder illegal erworbene Waffen, aber vor allem: keinen Ort, an dem sie ihre Verzweiflung aussprechen konnten. Keine Organisation, die sie auffing. Keine Idee, die ihnen Hoffnung gab.

Doch die Botschaft, die Jugendliche in dieser Gesellschaft Tag für Tag empfangen, ist nicht nur: „Du musst dich durchsetzen“ – sondern auch: „Gewalt ist ein legitimes Mittel zur Lösung von Konflikten.“ Wer die Nachrichten aufmerksam verfolgt, sieht es überall. Wenn Staaten Bomben auf Städte werfen, wird das als „Verteidigung“ verkauft. Wenn ethnische Gruppen ausgelöscht werden, heißt es, das sei „Vergeltung“. Selbst offen angekündigte Kriegsverbrechen – wie wir sie aktuell im Gazastreifen erleben – werden von “demokratischen” Regierungen nicht etwa verurteilt, sondern verteidigt, relativiert oder mit zynischen Formeln bemäntelt: „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen“ – auch wenn das in der Praxis bedeutet, ganze Wohnviertel auszulöschen, Krankenhäuser zu bombardieren oder Hunger als Waffe einzusetzen.

Was lernt ein junger Mensch daraus, der sich selbst machtlos, ungesehen, verachtet fühlt? Dass die Welt nicht durch Solidarität regiert wird, sondern durch Faustrecht. Dass derjenige, der zuschlägt, die Schlagzeilen bekommt. Dass der „Starke“ sich nehmen darf, was er will – und dass Empathie Schwäche ist.

Und diese Logik endet nicht bei den großen Kriegen der Weltpolitik. Auch im Alltag erleben viele Jugendliche Gewalt – nicht als etwas, das sie aus sich heraus erzeugen, sondern als etwas, das auf sie angewendet wird. Die Polizei geht oft mit besonderer Härte gegen Jugendliche vor, besonders wenn sie migrantisch sind oder aus armen Vierteln kommen. Da wird nicht gefragt, ob jemand etwas getan hat – sondern ob er aussieht, als könnte er es tun. Racial Profiling, erniedrigende Kontrollen, Festnahmen für Bagatelldelikte: All das sind Formen von Alltagsgewalt, die vielen jungen Menschen zeigen, wo ihr Platz in dieser Gesellschaft ist – nämlich ganz unten.

Statt Verständnis, Hilfe oder Anerkennung gibt es Repression. Statt Anlaufstellen: Gerichte. Statt Fürsorge: Knüppel. Und wer aufbegehrt, wer laut wird, wer sich verweigert, gilt sofort als „Problemfall“.

Diese ständige Gewalt – in der Familie, auf der Straße, in der Schule, durch die Behörden und in den Medien – hinterlässt Spuren. Sie stumpft ab, sie macht wütend, sie verzerrt das Bild davon, wie menschliches Miteinander aussehen könnte. Wer unter solchen Bedingungen aufwächst, verliert oft den Glauben daran, dass es andere Wege gibt, mit Schmerz und Ohnmacht umzugehen – als durch Gegengewalt.

Nicht “Sinnkrise”, sondern Systemkrise

Wir müssen uns fragen: Warum erleben so viele junge Menschen das Leben als leer, sinnlos, kalt? Warum fühlen sich so viele überflüssig?

Die Antwort liegt nicht in der Psyche einzelner Menschen, sondern in den Strukturen, die ihnen von der kapitalistischen “Leistungsgesellschaft” aufgezwungen wird. Wir leben in einem System, das Millionen von Menschen das Gefühl gibt, nichts wert zu sein, wenn sie nicht „funktionieren“. Das ist der wahre Nährboden solcher Taten, aber auch der für extreme Religiosität, Reichsbürgerfantasien, Libertarismus, Herrenmenschentum – also die radikalsten Erscheinungsformen der Selbstentfremdung.

Statt weiter in einer Ellenbogengesellschaft zu leben, brauchen wir eine, in der Solidarität und Kollektivität an erster Stelle stehen. Eine, in der niemand durch Noten, Herkunft oder Geld aussortiert wird. Eine, in der Jugendliche sich nicht beweisen müssen, um anerkannt zu werden, sondern gemeinsam – miteinander und aneinander – solidarisch  wachsen können.

Das wird nicht durch Appelle gelingen. Sondern nur, wenn wir ernsthaft beginnen, über eine andere Gesellschaft zu sprechen. Eine, in der nicht Profit, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht. Eine sozialistische Gesellschaft – in der sich niemand mehr so allein und wertlos fühlen muss, dass er glaubt, er müsse zur Waffe greifen, um gehört zu werden.

Was in Graz passiert ist, war ein Verbrechen. Aber es war auch ein Hilfeschrei aus dem Sumpf einer niedergehenden Gesellschaftsformation. Wenn dieser Schrei ignoriert wird, wird er nicht der letzte gewesen sein..