Die SPÖ in der Falle der Geheimverhandlungen

Wenig erstaunlich setzen die bürgerlichen Parteien und ihre medialen Sprachrohre auch nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen das SPÖ-Bashing fort. 

Unser Mitleid hält sich insofern in Grenzen, als die Sozialdemokratie auch jetzt ihrer historischen Rolle treu geblieben ist: Krankenpflegerin und Straßenkehrerin des Kapitalismus in Personalunion. 

1918 haben die imperialistische Bourgeoisie und der degenerierte Adel ein nach vier Jahren Weltkrieg ausgeblutetes und ausgehungertes Land hinterlassen – es waren, um den großen Theoretiker der österreichischen Sozialdemokratie Otto Bauer zu zitieren, die Sozialdemokraten, die Rest-Österreich vor einer sozialistischen Revolution bewahrten. 

Staatstragend waren sie die einzigen Republikaner in einer Zwischenkriegszeit, in der die politischen Vertreter der herrschenden Klasse ideologisch zwischen monarchistischer Restauration und faschistischer Reaktion schwankten. Indem sie konsequent auf dem Boden der bürgerlichen parlamentarischen Ordnung verharrten (also der Verteidigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und des pseudodemokratischen Staates als seiner politischen Hülle), lieferten sie das Proletariat wehrlos seinem Klassenfeind aus. 

Der bewaffnete Widerstand der entschlossensten Arbeiterinnen und Arbeiter gegen den Faschismus scheiterte im Februar 1934 an fehlenden Waffen – und mehr noch an revolutionärer Führung.

Der Austrofaschismus, weniger blutig, aber nicht weniger bösartig als sein großer deutscher Bruder, bereitete den Boden für die Machtergreifung der NSDAP im März 1938. 

Nach dem nächsten Weltkrieg standen rechte Sozialdemokraten wieder bereit, um dem Kapitalismus ein neues, stabiles Fundament zu bereiten. Ab 1945 bauten staatstragende Sozialdemokraten die 2. Republik, mit Paritätischer Kommission, Lohn-Preis-Abkommen, Sozialpartnerschaft, Ausschluss von Kommunist*innen aus den Gewerkschaften, Integration in die “Stay-Behind-Strategie” der NATO (“Gladio”), Bundesheer und maximal loyaler Opposition im Parlament mit auf. 

Was heute als Referenzpunkt für die “gute alte” (Neu)Zeit der SPÖ herhält – die Ära Kreisky – war nichts anderes als ein Stromschlag mit dem Defibrillator, mit dem die Sozialdemokratie der rachitischen Klientel der Volkspartei einen gehörigen Modernisierungsschock verpasste. 

Die verstärkte Integration des österreichischen Kapitalismus in die Weltwirtschaft  musste durch eine bürgerliche Arbeiterpartei erfolgen, weil sogar in der gebrochenen Form eines durch Sozialpartnerschaft verdrängten Klassenbewusstseins die Arbeiter*innenklasse nach wie vor die einzige wahrhaft international orientierte Klasse war. Die Zeitungskarikaturen der damaligen Zeit zeichneten buchstäblich ein realistisches Bild: Die ÖVP wurde durch einen bladen Bauern im Trachtenanzug mit Steirerhut und Gamsbart verkörpert.

Was die verknöcherte Volkspartei nicht schaffte, gelang der Kreisky-SPÖ: die Wirtschaft wurde belebt, mit der Orientierung Richtung Nahost ein neuer Markt erschlossen und durch Reformen im gesellschaftlichen Überbau das entsprechend motivierte Personal für die Reformpolitik herangezogen.

Wieder konnte die SPÖ konstatieren: “Mission complete” – Kapitalismus gerettet. 

In den 70er Jahren gab es zunächst weltweit einen Aufschwung des Klassenkampfs, der enorme Hoffnungen schürte: Sieg der Unidad Popular in Chile, Sturz des Caetano-Regimes in Portugal, Ende des Francismus in Spanien … Die Welle von Kämpfen, die zu keinen sozialistischen Revolutionen, sondern maximal demokratischen Veränderungen führten, schufen trotzdem günstige Bedingungen für die revolutionäre Arbeiter*innenbewegung. 

Ab den 80er Jahren begann das Pendel in die andere Richtung auszuschlagen: Reagan brach in den USA den Streik der Fluglotsen, Thatcher schlug die Bergarbeitergewerkschaft nieder, in Polen errichtete die stalinistische Führung angesichts der Arbeiter*innenproteste unter Jaruzelski ein Militärregime.

1986 begann mit dem Aufstieg Jörg Haiders ein Wandel in der politischen Landschaft: die FPÖ, die sich kurzfristig statt als Sammelbecken ehemaliger Nazis als Trägerin eines neuen Liberalismus geriert hatte, kehrte in neuen Kleidern “back to the roots”. Ein neuer, jugendlich wirkender, stromlinienförmiger faschistoider Populismus ward geboren. 

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989/90 bekam die Bourgeoisie weltweit Oberwasser und triumphierte – grundlos, wie die folgenden Krisen bewiesen. Und weiterhin taten Sozialdemokrat*innen auch in Österreich alles, um das kapitalistische System stabil zu halten. 2000 versuchten die österreichischen Kapitalist*innen erstmals nach langer Zeit, ohne SPÖ zu regieren. Die “Wenderegierung” Schüssel/Haider zeigte, in welche Richtung die Pläne der Bürgerlichen gingen. Die Kurz/Strache-Regierung knüpfte nahtlos an diese Traditionen an, nur noch zynischer und offensiver, und diesmal mit noch mehr Hass – gegen Migrant*innen und Arbeitslose. Ihr Ende kam nicht durch Massenwiderstand der Arbeiter*innen, sondern durch das Ganovenstück auf Ibiza. 

Ja, die österreichische Bourgeoisie ist ebenso wie ihre Klassengeschwister in anderen Ländern weiter nach rechts gerückt – die einen gehen den Weg Richtung Autoritarismus mit Anklängen an die klerikalfaschistischen Traditionen (das ist die christlich-soziale Fraktion), die anderen sind offen faschistoid, verbinden Ausländerhass mit offenen Drohungen gegen die politischen Gegner. Dritter im Bunde sind die NEOS, die im liberalen Gewande den Rammbock gegen die sozialen Errungenschaften der letzten 110 Jahre spielen wollen. Alle gemeinsam haben sie einen fast pathologischen Hass gegen alles, was sozialistisch ist (oder was immer sie in ihrer Ignoranz dafür halten oder als Provokation so bezeichnen).

Die VP/Grünen-Regierung (was, nebenbei die Rolle der kleinbürgerlichen Ökologiepartei ziemlich klar zeigt – greenwashing fürs Kapital!) hat ein immer größer werdendes Budgetdefizit hinterlassen – gut verschwiegen, gut hinter einer Wand von Lügen versteckt. Um die ohnehin steigenden Profite zu erhöhen, war die Regierung bereit, die Arbeitszeit anzugreifen, bei Beamten und Pensionist*innen auf die Lohnbremse zu steigen, Investitionen in “nichtprofitablen” Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Pflege so gering wie nur möglich zu halten.

Mit Andreas Babler als Parteivorsitzendem schien die Sozialdemokratie plötzlich ein schärferes, kantigeres Profil zu bekommen. Maßnahmen, die zwar mit dem System kompatibel sind, wie Vermögens- und Erbschaftssteuern, Eingriffe in den Immobilienmarkt, um das Wohnen leistbarer zu machen, Versprechen wie die Bekämpfung der Kinderarmut – das waren neue Töne, die viele motivierten, sich für die SPÖ zu engagieren. 

Dass nicht nur die Bourgeoisie eine wütende Hetzkampagne begann, sondern auch in der Partei selbst verknöcherte, mit dem kapitalistischen System zusammengewachsene Bürokraten, diesen Kurs bekämpften, war mit einer der Gründe für das schwache Ergebnis der SPÖ bei den Nationalratswahlen. Profitieren konnte dadurch die faschistoide FPÖ, die mit ausländerfeindlichen Parolen und Attacken auf Sozialschmarotzer*innen zwar keine Lösungen für die wirtschaftlichen Probleme, wohl aber billige Sündenböcke anbieten konnte.

Für die wichtigsten Kapitalfraktionen ist die FPÖ derzeit nicht die politische Lieblingsoption. Wie alle faschistoiden Parteien ist sie, trotz ihrer klaren Positionierung als Vertreterin des “Systems”, das sie ja angeblich bekämpft, unberechenbar und kann durch ihr aggressives Auftreten proletarischen Widerstand provozieren. Wie wir schon öfter gesehen haben, ist eine Koalition mit einer anderen bürgerlichen Partei die bevorzugte Variante. Die Herren der Industrie, des Handels und der Agrarwirtschaft haben dann das beste aus zwei bürgerlichen Welten: massive Angriffe auf soziale Errungenschaften, schaumgebremst durch zivilisiertere Minister*innen anderer bürgerlicher Fraktionen. Wenn ein offensichtlich Betrunkener randalierend ins Wirtshaus kommt, gibt ihm der Wirt keinen Schnaps mehr. Hat er aber einen nüchternen, gutgekleideten seiösen Herrn Doktor an seiner Seite, der besänftigend auf ihn einredet, lässt sich der Gastronom dann doch zum Alkoholausschank bewegen.

Die Koalitionsverhandlungen sind also geplatzt. Müssen wir jetzt die SPÖ-Führer tröstend in den Arm nehmen und ihnen liebevoll zuflüstern “Ihr seid ja so arm. Ihr wolltet nur das Beste, und die anderen sind so gemein. Beim nächsten Mal wird’s sicher besser”?

Wir haben von Haus aus gesagt: eine Partei, die sich auf die Arbeiter*innenbewegung beruft, darf sich an keinen Koalitionsverhandlungen beteiligen! 

Es ist ein Verrat an den Interessen ihrer Basis (Mitglieder, Stammwähler*innen, wie auch immer) und aller, die Vertrauen in ihre Wahlversprechungen hatten. Eine Regierungsbeteiligung mit einer Partei wie der ÖVP kann keinen Fortschritt bringen: sie hat durch ihre jahrelange Regierungsarbeit bewiesen, dass sie nichts anderes ist als der geschäftsführende politische Ausschuss der Industriellenvereinigung, der WKÖ, der Großbauern und des agrar-industriellen Komplexes.

Aus “Staatsräson” und um die FPÖ “zu verhindern” hinein in eine Regierung zu taumeln, deren Ziel es nur sein kann, Krisenlasten aller Art auf die lohnabhängige Bevölkerung abzuwälzen? Ja ja, das bei den Sozialdemokraten so beliebte “kleinere Übel” hat wieder zugeschlagen. Bloß ist das “kleinere Übel” immer der Wegbereiter des größeren und sogar des ganz großen Übels. Weil es nämlich die arbeitende Bevölkerung sturmreif schießt für immer frechere und aggressivere Angriffe. Weil es die Massen demoralisiert. Weil es den politischen Bewegungsspielraum einschränkt, weil das “kleinere Übel” ein autoritäres Übel ist, wenn auch manchmal getarnt durch eine nasal-aristokratische Schallenbergsprache.

In der Zeit im Bild am 4. Jänner 2025 hat Andreas Babler offenherzig erklärt: 

Also erklärt Babler im ZiB 2-Studio keine drei Stunden nach dem Abbruch der Gespräche sehr nachdrücklich: „Substanz- und Vermögenssteuern waren kein Thema mehr in den Verhandlungen“. Das heißt, fragt Wolf fast ein bisschen erstaunt: „Sie wollten keine Vermögens- und Erbschaftssteuern?“ „Ganz genau“, antwortet Babler, und später sagt er noch: „Wir haben darauf nicht bestanden.“

Wir wissen nicht, wie weit die Zugeständnisse noch gegangen wären, hätten die NEOS die zähen Verhandlungen nicht dafür ausgenutzt, sich selbst als die neue globale Sachwalterin der Kapitalist*innenklasse ins Spiel zu bringen.

Als Babler im Juni 2023 um den SP-Parteivorsitz kämpfte, machte er der Basis der Partei viele Versprechungen:

Neben dem Mitgliederentscheid über die Vorsitzwahl will Babler auch eine Basisabstimmung über etwaige Koalitionsabkommen. Denn „für große politische Veränderungen brauchen wir euren ganzen Mut, eure ganze Kraft, euer ganzes Engagement“, heißt es in Bablers Programm. Allerdings: Viele Optionen dafür ließ sich der neue Parteichef nicht offen. Die Freiheitlichen schloss er als Partner sowieso von Beginn an aus, aber auch mit der ÖVP will er nicht wirklich. (Der Standard, 8. Juni 2023)

Nun, die meisten Demokratisierungspläne wurden schnell vom Parteiapparat abgewürgt. 

Was die verlogenen Bürgerlichen nun zur Waffe gegen Babler und die SPÖ machen, ist das Praktizieren einer der übelsten und verkommensten Methoden der politischen Entscheidungsfindungen im kapitalistischen System: Das Verhandeln und Packeln hinter verschlossenen Türen.

Babler ist sogar noch stolz darauf, dass das “Vertrauen” zwischen den “Verhandlunspartner*innen” lange so gut war, dass “nichts nach Außen gedrungen ist”.

Was, sogar in einer idealen bürgerlich-demokratischen Welt eigentlich eine Frechheit wäre. Warum soll über ein Regierungsprogramm geheim verhandelt werden? Warum sollen die Wähler*innen nicht erfahren, welche konkreten Positionen die einzelnen Parteien vertreten? Vielleicht um zu verhindern, dass die Basis selbst die Verhandlungsdelegationen zurückpfeift, wenn diese ihre Versprechen brechen?

Die ÖVP steht vor einer Zerreissprobe. Die FPÖ macht sich zum Griff nach der Macht bereit und schnappt nach den abgelösten Brocken.

Jetzt müssen die Genoss*innen an der Basis der SPÖ den Funktionär*innen klar und deutlich zurufen: “Keine Zugeständnisse an dieses reaktionäre Pack! Mit bürgerlichen Parteien kann es keine Übereinstimmung geben – hier steht Klasse gegen Klasse! Wir sind nicht dazu da, die Scherben der verfehlten Politik im Dienste des Kapitals wegzuräumen. Es ist Zeit, dass wir selbst, die Arbeiter*innen, die Gesellschaft nach unseren Bedürfnissen gestalten. Es gibt kein Recht auf Ausbeutung, es gibt kein Recht auf Entlassungen, es gibt kein Recht auf die Zerschlagung unserer Errugenschaften!”.

Es ist hoch an der Zeit, die Idee einer Arbeiter*innenregierung auf breiter Basis zu diskutieren.