ABC des Marxismus: Warum Marxist*innen jede Koalition mit bürgerlichen Parteien ablehnen

Die Frage, warum Marxist*innenen grundsätzlich jede Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien ablehnen, ist keine bloße taktische Entscheidung, sondern folgt aus einer grundsätzlichen Analyse des Klassencharakters der Gesellschaft und der Rolle des Staates. Der Kapitalismus ist ein System, das auf der Ausbeutung der Arbeiter*innenklasse durch die Bourgeoisie basiert. Der bürgerliche Staat ist nichts anderes als das Instrument, mit dem diese Ausbeutung aufrechterhalten wird – durch Gesetze, Polizei und Militär. Jede bürgerliche Partei, ob konservativ oder liberal, ist dem Schutz dieses Systems verpflichtet.

Der Verrat der Sozialdemokratie

Die Sozialdemokratie hat seit 1914 gezeigt, dass sie nicht etwa eine Alternative zum Kapitalismus darstellt, sondern vielmehr als Pufferzone dient, um das System in Krisenzeiten zu stabilisieren. Sie spielt die Rolle des „Putztrupps“ der Bourgeoisie, indem sie versucht, den „kapitalistischen Krisenmüll“ zu beseitigen. Das bedeutet: Anstatt die Krisenhaftigkeit des Systems zu bekämpfen, verwaltet sie diese im Sinne der Kapitalinteressen.

Beispiele dafür finden sich zuhauf in der Geschichte. Von der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 zu Beginn des imperialistischen 1. Weltkriegs bis hin zu den neoliberalen Reformen der Schröder-Regierung in Deutschland (Hartz IV) und den ersten Sparpaketen in Österreich (1982: „Mallorca-Paket“, 1996, 1997), Filetierung und Zerschlagung der verstaatlichten Industrie,  – die Sozialdemokratie hat immer wieder bewiesen, dass sie bereit ist, die Interessen der Kapitalist*innenenklasse über die der Arbeiter*innenklasse zu stellen. Diese Politik hat nur ein Ziel: die Wut und die Energie der Arbeiter*innenklasse zu kanalisieren und auf „sichere Bahnen“ zu lenken.

Ein aktuelles Beispiel dafür liefert jetzt wieder die SPÖ . Angesichts des Scheiterns einer Regierungsbildung ohne die faschistoide FPÖ äußerte sich der Volkshilfe-Chef Erich Fenninger über die Rolle der SPÖ enttäuscht: „Wir sind bestürzt und fassungslos, dass die Repräsentant:innen eines sozialdemokratischen Lagers nicht in der Lage sind, eine Koalition zu bilden und ihre eigenen Parteiinteressen dem großen Ganzen unterzuordnen.“ Fenninger tritt also offen für eine Koalition der SPÖ mit ÖVP und NEOS ein, die beide offen ausgesprochen haben, dass ihre wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen deckungsgleich mit jenen der Industriellenvereinigung und des reaktionärsten Flügels in der WKÖ sind. Es geht nicht um Partei- , es geht um Klasseninteressen. Sozialdemokratische Bürokrat*innen wie Fenninger sehen sich schon lange nicht mehr als Arbeiter*innenvertreter, ihr Adressat ist ein nebulöses „Volk“. Diesem klassenmäßig verschwommenen Brei kann und will der SP-Apparat klarerweise nichts vorsetzen, was auch nur ansatzweise an Sozialismus erinnert. 

Koalitionen: Eine Falle für die Arbeiterklasse

Jede Koalition mit bürgerlichen Parteien bedeutet zwangsläufig, dass sozialistische Prinzipien geopfert werden müssen. Sobald Arbeiter*innenorganisationen sich auf ein Bündnis mit Parteien einlassen, die den Kapitalismus verteidigen, verlieren sie ihre unabhängige Klassenposition. Sie werden zu Komplizen eines Systems, das sie angeblich bekämpfen.

Nehmen wir an, eine Arbeiter*innenpartei tritt in eine Regierung mit einer bürgerlichen Partei ein. Diese Regierung wird nicht die Macht haben, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse anzutasten, weil die bürgerliche Partei – als Vertreterin des Kapitals – dies nicht zulassen wird. Stattdessen wird die Arbeiter*innenpartei gezwungen sein, reaktionäre Entscheidungen mitzutragen: Sparmaßnahmen, Privatisierungen, manchmal sogar militärische Interventionen. Damit wird sie in den Augen der Arbeiter*innenklasse diskreditiert.

Ein weiteres Beispiel für die Dynamik solcher Koalitionen findet sich in der aktuellen Diskussion um die Regierungsbildung in Österreich. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) erklärte, dass die SPÖ jederzeit bereit sei, die Verhandlungen mit der ÖVP und den NEOS wieder aufzunehmen, um eine Regierung zu bilden, die „sozial gerecht, wirtschaftlich wettbewerbsfähig und gesellschaftspolitisch liberal“ sei. Diese Position zeigt, dass die SPÖ sich weiterhin darum bemüht, innerhalb der Grenzen des Kapitalismus zu agieren, weil sie keine sozialistische Alternative anbieten kann und will. Gleichzeitig warnte Ludwig vor der FPÖ und ihrem Parteichef Herbert Kickl, den er als „Sicherheitsrisiko“ bezeichnete. 

Revolution statt Reform

Marxist*innen lehnen Koalitionen mit bürgerlichen Parteien ab, weil sie wissen, dass der Kapitalismus nicht reformiert werden kann. Es gibt keine „humanere“ Version der Ausbeutung, keine „soziale Marktwirtschaft“, die den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aufheben könnte. Der einzige Weg, die Macht der Bourgeoisie zu brechen, ist eine sozialistische Revolution, die den Kapitalismus überwindet und die Arbeiter*innenmacht als Schritt zur klassenlosen Gesellschaft aufbaut. 

Dazu Bedarf es einer revolutionären Arbeiter*innenpartei. Nur eine Partei auf einer soliden marxistischen Programmatik kann sicherstellen, dass der Kampf gegen den Kapitalismus nicht auf halbem Wege stecken bleibt, sondern in einer sozialistischen Gesellschaft gipfelt, die frei von Ausbeutung und Unterdrückung ist.


1898: Rosa Luxemburg gegen den „Ministerialismus“

Alexandre-Étienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine opportunistische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erste praktische Schritt des Opportunismus zur Einordnung der französischen Arbeiterbewegung in den bürgerlichen Staat führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und den revisionistischen Opportunisten.

Die Parteien der II. Internationale verstanden sich als sozialistische Parteien, d.h., sie hatten den revolutionären Anspruch, den Kapitalismus zu stürzen, um eine gerechte klassenlose Gesellschaft aufzubauen. Rosa Luxemburg, prominente Vertreterin des linken Flügels in der SPD, trat dem Opportunismus mit klaren Worten entgegen:

In den Parlamenten können die Arbeitervertreter, wo sie mit ihren Forderungen nicht durchdringen können, sie doch wenigstens in der Weise vertreten, daß sie in oppositioneller Stellung verharren. Die Regierung hingegen, die die Ausführung der Gesetze, die Aktion zur Aufgabe hat, hat keinen Raum in ihrem Rahmen für eine prinzipielle Opposition, sie muß (…), doch stets einen grundsätzlich gemeinsamen Boden unter den Füßen haben, der ihr das Handeln ermöglicht, den Boden des Bestehenden, mit einem Wort, den Boden des bürgerlichen Staates. Der äußerste Vertreter des bürgerlichen Radikalismus kann im großen und ganzen mit dem rückständigsten Konservativen Seite an Seite regieren. (…) In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.

Der zitierte Text von Rosa Luxemburg (1871-1919) erschien kurz nach Millerands Regierungseintritt in der Leipziger Volkszeitung.

Luxemburgs prinzipielle Kritik am “Ministerialismus” ist bis heute wichtig und richtig – allerdings nur für Genoss*innen, die sich von den bestehenden sozialdemokratischen Parteien mehr erwarten als eine bloße “Verwaltung der kapitalistischen Krise”.

Genoss*innen in der SPÖ, die den Widerstand gegen die drohende Bürgerblockregierung mittragen wollen, müssen daher für den Bruch ihrer Partei mit der Bourgeoisie kämpfen.