Wenn Donald Trump mit einem „militärischen Eingreifen“ gegen Nigeria droht, um einen angeblichen „Genozid an Christen“ zu verhindern, kratzt das nur religiös-fundamentalistisch grundiert an der Oberfläche einer viel tieferen sozialen Katastrophe. Hinter den religiös gefärbten Schlagzeilen verbirgt sich kein Kampf zwischen Glaubensrichtungen, sondern die Krise eines halbkolonialen kapitalistischen Staates, der auf den Widersprüchen von Klassenherrschaft, Rohstoffabhängigkeit und imperialistischer Unterordnung beruht.
Ein Land, zerrissen zwischen Ölreichtum und Massenarmut
Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas, mit über 230 Millionen Einwohner*innen und einer jungen, rasch wachsenden Bevölkerung. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von rund 470 Milliarden US-Dollar (Weltbank 2024) ist es formell die größte Volkswirtschaft des Kontinents – doch dieser Reichtum ruht auf einem einzigen Bein: der Erdölförderung. Mehr als 85 % der Exporterlöse stammen aus Rohöl, und die OPEC-Mitgliedschaft sichert Nigeria einen festen Platz in der imperialistischen Weltarbeitsteilung als Rohstofflieferant.
Diese Abhängigkeit prägt die Klassenstruktur: Im Öl- und Gassektor sind nur rund 80 000 Menschen direkt beschäftigt, doch sie bilden – hochkonzentriert in Betrieben wie der Nigerian National Petroleum Company (NNPC) und Shell-Joint-Ventures – den am stärksten organisierten Teil der Arbeiter*innenklasse. Die Nigerian Union of Petroleum and Natural Gas Workers (NUPENG) und ihre Dachorganisation, der Nigeria Labour Congress (NLC), gehören zu den wenigen Verbänden, die landesweite Streiks organisieren können. Ihr Potenzial zur Politisierung ist erheblich – doch sie werden durch Bürokratie und staatliche Repression in Schach gehalten.
Die große Mehrheit der Arbeiter*innenklasse lebt jedoch in prekären Verhältnissen: Millionen schuften im informellen Sektor, in den Städten Lagos, Kano und Port Harcourt, ohne soziale Absicherung oder gewerkschaftliche Organisation. Die Arbeitslosenquote liegt offiziell bei rund 9 %, doch die Unterbeschäftigung ist weitaus höher; über 40 % der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
Außerdem dient Nigeria den entwickelten kapitalistischen Ländern als Deponie für ihren Elektronikmüll. Die Armut reicht dabei so weit, dass die Nigerianer*innen gezwungen sind, die Metalle aus den Elektrogeräten unter der Entwicklung giftiger Dämpfe heraus zu schmelzen und am Rohstoffmarkt zu verkaufen.
Land, Hunger und bewaffnete Konflikte
Auf dem Land hat die fortschreitende Ausdehnung von Ackerflächen, Bevölkerungswachstum und der Klimawandel die Konkurrenz um Wasser und Weideflächen verschärft. Dort treffen sesshafte Bäuer*innen – meist christlich, kleinbäuerlich organisiert – auf Viehhalter, überwiegend Fulani und muslimisch. Doch die Gewalt, die daraus erwächst, ist nicht religiös motiviert: Sie entspringt der Zerstörung traditioneller Lebensweisen durch kapitalistische Marktmechanismen und die völlige Vernachlässigung der ländlichen Bevölkerung durch den Staat.
Das Fehlen oder die Schwäche einer staatlichen Infrastruktur, die Korruption der Polizei und die Kommerzialisierung von Gewalt (Entführungsindustrie, Milizen) schaffen ein Klima permanenter Unsicherheit. Lokale Politiker und Großgrundbesitzer instrumentalisieren ethnisch-religiöse Spannungen, um ihre Macht zu sichern oder Gegner zu framen.
In diesem Chaos agieren jihadistische Gruppen wie Boko Haram oder ISWAP, die seit 2009 ganze Landstriche im Nordosten kontrollieren. Ihre Wurzeln liegen nicht in „Fanatismus“, sondern in der sozialen Verzweiflung der verarmten Jugend, die vom kapitalistischen Wachstum ausgeschlossen bleibt. In einem Land, in dem 60 % der Menschen unter 25 Jahren alt sind und keine Perspektive haben, ist der bewaffnete Kampf gegen den Staat und seine Institutionen oder irgendwelche Sündenböcke oft der einzige Ausdruck der sozialen Revolte. Genau diese Verzweiflung und aufgestaute, aus Frustrationen und Perspektivlosigkeit geborene Aggression nützen religiös motivierte Banden wie Boko Haram, um ihre Kämpfer zu rekrutieren.
Schwacher bürgerlicher Staat, bürokratisierte Gewerkschaften
Politisch ist Nigeria eine „föderale Präsidialrepublik“, faktisch jedoch eine Oligarchie der Bourgeoisiefraktionen, die sich in Parteien wie der regierenden All Progressives Congress (APC) und der oppositionellen People’s Democratic Party (PDP) ausdrücken. Beide sind bürgerliche Organisationen mit dem Ziel, ihre Teilhabe an der Ölrente zu sichern. Keine dieser Parteien vertritt die Interessen der Arbeiter*innenklasse.
Gewerkschaften wie der NLC oder die Trade Union Congress (TUC) rufen zwar gelegentlich zu Streiks auf – etwa gegen Benzinpreiserhöhungen oder Privatisierungen –, brechen sie aber regelmäßig nach Zugeständnissen durch das Management oder Ministerien ab. Die politische Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse ist also noch nicht erkämpft. Eine revolutionäre Perspektive würde den Aufbau einer eigenständigen Arbeiter*innenpartei erfordern, die sich auf die Ölarbeiteri*nnen, die verarmten Massen in den Städten und die landlosen Bauern stützt.
Imperialistische Einflusszonen
Seit Jahrzehnten ist Nigeria ein zentraler geopolitischer Schauplatz imperialistischer Interessen. Die USA, Großbritannien und zunehmend auch China ringen um Einfluss über Investitionen, Militärprogramme und Sicherheitskooperationen. Die US-Drohungen, Nigeria wegen „Christenverfolgung“ zu bestrafen, sind nichts anderes als der Versuch, den nigerianischen Staat fester in den westlichen Block einzubinden. Der Imperialismus nutzt dabei bewusst religiöse und moralische Vorwände, um ein militärisches Eingreifen zu legitimieren.
Repression und Widerstand
Unter Präsident Bola Tinubu hat die Repression zugenommen: Proteste gegen Preiserhöhungen, Korruption und Polizeigewalt werden regelmäßig niedergeschlagen; Aktivist*innen verschwinden in Haft. Doch gleichzeitig wächst der Widerstand. 2020 mobilisierte die Jugendbewegung #EndSARS Millionen gegen Polizeigewalt – ein Beweis dafür, dass unter der Oberfläche des religiösen und ethnischen Chaos eine Klassenwut brodelt, die sich politisch formieren könnte.
Perspektive der Arbeiter*innenmacht
Eine dauerhafte Lösung kann nicht aus „Rechtstaatlichkeit“ oder „kommunalen Sicherheitsstrukturen“ erwachsen, wie diverse NGOs in den imperialistischen Metropolen argumentieren. Unfähig und unwillig, eine Lösung der sozialen Probleme Afrikas jenseits des neokolonialen und imperialistischen Ordnung zu suchen, sind die wohlmeinenden Ratschläge bloß die Rationalisierung der bestehenden kapitalistischen Herrschaft. Die einzige Perspektive liegt in der unabhängigen Selbstorganisation der Arbeiter*innenklasse und der armen Bäuer*innen, in der Vereinigung ihrer Kämpfe gegen Ausbeutung, Enteignung und imperialistische Unterordnung.
Die Aufgabe internationalistischer Kommunist*innen in Nigeria besteht darin, in den Gewerkschaften, in den Stadtvierteln, in den Universitäten klassenbewusste Kerne zu verankern, die den religiösen und ethnischen Spaltungen den Boden entziehen und den Weg zur Arbeiter*innenmacht öffnet.
Klarerweise kann eine sozialistische Perspektive nicht auf die von den alten Kolonialmächten gezogenen Grenzen beschränkt bleiben. Die Zusammenfassung und Zentralisierung der Kämpfe in der Subsahara-Region wird eine wichtige Aufgabe für revolutionäre Arbeiter*innenparteien in Afrika und die Revolutionäre Arbeiter*inneninternationale, die wir aufbauen wollen.



