Bahçelis strategischer Aufruf und der neue Staatsstreich
Der Aufruf von Devlet Bahçeli (Führer der nationalistischen MHP, Koalitionspartner der regierenden AKP) vom 22. Oktober 2023 – „Die PKK muss die Waffen niederlegen, Öcalan muss einen Aufruf erlassen, die HDP muss sich politisieren“ – ist nicht bloß als politische Rede, sondern als Ausdruck einer neuen strategischen Wendung des Regimes zu verstehen. Dieser Appell war einerseits eine Reaktion auf die wirtschaftliche, politische und diplomatische Krise des Erdoğan-Regimes, andererseits die Ankündigung eines kontrollierten Szenarios, das einen „Normalisierungsprozess“ mit der kurdischen Bewegung einleiten soll.
Aus Sicht des AKP-MHP-Regimes machten die sich verschärfende Wirtschaftskrise im Inneren, außenpolitische Verhandlungspunkte wie die NATO-Mitgliedschaft Schwedens sowie blockierte regionale Fronten (z. B. der Status von Rojava) die Suche nach Spielraum zwingend erforderlich. In diesem Zusammenhang zielt Bahçelis Aufruf zur „Liquidierung“ des bewaffneten Arms der kurdischen Bewegung und ihrer Einbindung ins System darauf ab, innenpolitisch ein Friedenssignal zu senden und außenpolitisch an Einfluss zu gewinnen. Klar ist, dass dieser Aufruf nicht von einer Fraktion im Staat ausging, sondern in Übereinstimmung mit dem Nationalen Sicherheitsrat und dem Präsidialpalast erfolgte.
Diese Linie ist das Resultat der Sackgasse, in die das Erdoğan-Regime mit seiner sicherheitspolitischen Verwaltung der kurdischen Frage geraten ist. Seit 2015 – mit den sogenannten „Grabenkriegen“ und einer Politik umfassender Repression – versuchte das Regime, die kurdische Bewegung niederzuschlagen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, aber die Bewegung verlor ihre frühere Bedeutung. Für das Regime wurde das Kurdenproblem erneut zu einer Frage der „Verwaltung“, nicht der „Lösung“.
Die durch Bahçelis Appell geöffnete Tür richtet sich scheinbar an die PKK und Öcalan; in Wirklichkeit entspringt sie den inneren Bedürfnissen des Systems. Das Regime versucht mit diesem Manöver, Öcalan wieder als politisch einsetzbare Figur zu etablieren, die PKK in ein entwaffnetes, kontrolliertes „demokratisches Element“ zu verwandeln und die legale kurdische Politik über die HDP/DEM auf einen restaurativen Kurs zu bringen. Es geht also nicht um eine Lösung, sondern um einen Kapitulationsprozess.
Die Beschlüsse zur Auflösung und Beendigung des bewaffneten Kampfes, die im Abschlusstext des 12. Kongresses der PKK enthalten sind, sind eine direkte Antwort auf diesen Appell und Teil dieser Strategie. Dass das Thema „organisatorische Auflösung“ nur sieben Monate nach dem Appell auf die Tagesordnung kam und eine Periode im Einklang mit der Rhetorik einer „demokratischen, friedlichen Lösung“ abgeschlossen wurde, ist kein Zufall. Doch was beendet wurde, ist nicht nur eine Periode, sondern eine Linie, eine Strategie, ja eine klassenmäßige Position.
Der Auflösungsbeschluss der PKK: Offizielle Etappe des Liquidationsprozesses
Die beim 12. Kongress der PKK verkündeten Entscheidungen zur Auflösung und zur Beendigung des bewaffneten Kampfes stellen einen der entscheidendsten Wendepunkte in der Geschichte der kurdischen Bewegung dar. Sie bedeuten nicht nur das Ende einer Organisation, sondern auch einer gesamten strategischen Linie und einer bestimmten Kampfform. Doch diese Entscheidungen kamen nicht plötzlich oder überraschend. Die Liquidierung der PKK wurde über Jahre hinweg politisch und ideologisch vorbereitet. Der „Lösungsprozess“ 2013–2015, die Rojava-Erfahrung, die Institutionalisierung der HDP und die Verfestigung der wahlzentrierten Strategie bildeten die Etappen dieses Prozesses. Nun ist der Punkt erreicht, an dem eine definitive Erklärung erfolgt.
Die historische Entwicklung der PKK führte von einem kleinbürgerlich bewaffneten Nationalismus hin zu einer versöhnlerischen Identitätspolitik – von einer revolutionären Linie zu einer Opposition im Rahmen der bestehenden Ordnung. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Wechsel der Kampfmittel. Die PKK verabschiedet sich nicht nur von den Waffen, sondern auch von ihren grundlegenden Zielsetzungen zur historischen Lösung der kurdischen Nationalfrage – wie Unabhängigkeit, Föderation oder Autonomie. Weder ein kurdischer Staat, noch demokratische Autonomie, noch die nationale Selbstbestimmung stehen heute im Fokus. Stattdessen stehen vage Forderungen wie „Demokratisierung der Türkei“, „lokale Selbstverwaltung“ oder „lokale Demokratie“ im Raum – Konzepte, die sich problemlos mit dem bestehenden Regime vereinbaren lassen. Dies ist keine strategische Neuausrichtung, sondern die Sinnentleerung des revolutionären Anspruchs. Die PKK ist heute an einem historischen Tiefpunkt des Liquidationismus angekommen.
Diese Entscheidungen markieren die parlamentarische Integration eines über Jahrzehnte unter hohen Opfern aufgebauten Volkskampfes. Das Isolationregime auf İmralı (Inselgefängnis von Öcalan) sowie seine Stellung als absoluter Führer dienen dabei als ideologische Garantie dieses Prozesses. Der Rückzug wird mit Begriffen wie „demokratische Moderne“ oder „gesellschaftlicher demokratischer Sozialismus“ theoretisiert. Doch dieser theoretische Rahmen entleert die historische Substanz der nationalen Frage, kappt jeden Bezug zur Klassenkampfperspektive und zum revolutionären Machtanspruch. Zurück bleibt nur das Ziel, den bürgerlichen Staat zu reformieren, sich in lokale Verwaltungen zu integrieren und als oppositioneller Akteur im Rahmen der bestehenden Ordnung zu fungieren. Das ist nicht die Freiheit des kurdischen Volkes, sondern ein Anpassungsprojekt an das System.
Demokratische Moderne: Eine Theorie der Anpassung, nicht des Kampfes
Das Konzept der „demokratischen Moderne“, das als theoretisches Fundament für die Beendigung des bewaffneten Kampfes dient, ist nicht nur ein ideologischer Richtungswechsel, sondern zugleich ein Bruch mit der marxistischen Perspektive. Die von Öcalan auf İmralı entwickelten Texte präsentieren sich als „Alternative“ zur Klassenkampftheorie, zum revolutionären Machtanspruch und zum Sozialismus. In Wahrheit handelt es sich jedoch um eine ideologische Reproduktion von Versöhnung mit dem bürgerlichen Staat, um Reformismus und die Liquidierung revolutionärer Politik.
Seit den 2000er Jahren behauptet Öcalan, den Marxismus „überwunden“ zu haben, erklärt den Staat zur „freiheitsschädlichen Institution“ und schlägt stattdessen eine staatsfreie, konföderale Struktur vor. Als Bezugspunkt dienen ihm u. a. Murray Bookchins Thesen zur radikalen Demokratie und zum Kommunalismus. Doch Bookchins Ansatz bleibt eine liberale Utopie der „Dezentralisierung“, die den bürgerlichen Staat und Eigentumsverhältnisse nicht aufheben will. Es handelt sich also nicht um einen revolutionären Bruch, sondern um eine Strategie zur Anpassung an die kapitalistische Staatslogik. Öcalan sieht im Staat nicht das grundlegende Übel – außer für die Kurd*innen. Die Existenz kolonialer Staaten an sich wird nicht in Frage gestellt. Seine Vision ist es, diese zu „demokratisieren“ – eine reaktionäre Utopie.
Der „demokratische Konföderalismus“ der PKK ist die Verlängerung dieser Linie. Klassentrennungen verschwinden, Eigentumsverhältnisse und die Rolle der herrschenden Klasse bleiben außen vor. Die nationale Befreiung wird auf Forderungen wie „Anerkennung der Identität“ und „lokale Selbstverwaltung“ reduziert. Damit wird der kurdische Befreiungskampf aus dem Rahmen des antiimperialistischen, klassenkämpferischen Projekts herausgelöst und in eine identitätspolitische, reformistische Sackgasse gedrängt. Dieser theoretische Rückschritt legitimiert den praktischen Liquidationismus ideologisch.
Öcalans Behauptung, den Marxismus überwunden zu haben, bedeutet in Wirklichkeit, dass er den historischen Materialismus aufgegeben und den Klassenkampf durch ein Konzept der „moralisch-politischen Gesellschaft“ ersetzt hat. Was er jedoch nicht überwunden hat, ist der Kapitalismus – in seiner konkreten Form: der türkische Nationalstaat. Der heutige Kurs der PKK, nämlich Versöhnung mit dem Staat, Integration in seine Institutionen und die Suche nach „demokratischem Wandel“ ohne Klassenkampf, ist Ausdruck dieser ideologischen Hegemonie. Versprochen wird dem kurdischen Volk nicht Revolution und Befreiung, sondern Reformen im Rahmen der bestehenden Ordnung – ein Angebot der Anpassung.
In diesem Sinne ist die „demokratische Moderne“ keine Kampftheorie, sondern eine Theorie der Kapitulation. Wie jede Alternative, die sich vom revolutionären Programm der Arbeiter*innenklasse entfernt, wird auch dieses Modell letztlich im Kapitalismus aufgelöst. Die wirkliche Lösung liegt im internationalistischen Sozialismus, der die Freiheit der Völker mit der revolutionären Macht der Arbeiter*innenklasse vereint. Der Marxismus ist keine Theorie von gestern – er ist die Wissenschaft des Klassenkampfes auf Weltebene. Es geht nicht darum, ihn zu „überwinden“, sondern darum, die Revolution zu verwirklichen.
Zwischen „demokratischer Moderne“ und Liquidationismus: Überwindung des Marxismus oder Liquidierung des nationalen Befreiungskampfs?
Die auf dem 12. Kongress der PKK gefassten Beschlüsse bedeuten nicht nur eine organisatorische Umstrukturierung oder eine Änderung der Kampfmethoden, sondern die ideologische, strategische und programmatische Liquidierung des kurdischen Befreiungskampfes. Die Entscheidung zur „Auflösung der organisatorischen Struktur der PKK und zur Beendigung der Methode des bewaffneten Kampfes“ markiert eine Abkehr von sämtlichen historischen und revolutionären Errungenschaften der nationalen Bewegung.
Es geht nicht nur darum, sich von den Waffen zu verabschieden, sondern auch um das Aufgeben politischer Zielsetzungen für die Lösung des nationalen Problems der Kurd*innen wie Unabhängigkeit oder Autonomie. Wie es in der offiziellen Abschlusserklärung heißt:
„Die Auflösung der organisatorischen Struktur der PKK bedeutet nicht das absolute Ende der revolutionären Befreiungsbewegung, im Gegenteil, sie ist ein neuer Anfang.“
(Rudaw.net, 12. Mai 2025)
Doch dieser „neue Anfang“ stellt keine revolutionäre Offensive, sondern eine ideologische und politische Versöhnung mit der bestehenden Ordnung dar. Der gesamte Prozess ist eine postmoderne Restauration der national-revolutionären Bewegung. Aus der revolutionären Krise ist eine Liquidationsmanöver hervorgegangen, das auf Klassenversöhnung und Frieden mit dem Staat abzielt.
Die ideologische Linie der PKK beruht seit geraumer Zeit auf einem postmodernen Sozialismusbild, geprägt durch Begriffe wie „demokratische Moderne“, „radikale Demokratie“ und „Konföderalismus“, wie sie von Abdullah Öcalan formuliert wurden. Dieser theoretische Rahmen verwirft marxistische Klassenanalyse, historischen Materialismus und den revolutionären Machtanspruch und ersetzt sie durch kulturellen Pluralismus, Dezentralisierung und Zivilgesellschaft.
Öcalan behauptet seit Jahren, den Marxismus überwunden zu haben. Doch die Wirklichkeit spricht eine andere Sprache: Er hat nicht den Marxismus überwunden, sondern den Kapitalismus nicht überwunden – nicht die imperialistische Weltordnung, nicht die ideologische Hegemonie des kolonialen und kapitalistischen türkischen Staats. Im Gegenteil: Er wurde zum theoretischen Ausdruck der Versöhnung mit diesen Strukturen.
Die Theorie der „demokratischen Moderne“ liquidiert nicht nur den Klassenkampf, sondern auch die klaren historischen Forderungen des kurdischen Volkes nach nationaler Befreiung. Wie die Abschlusserklärung formuliert:
„Das Paradigma der demokratischen Moderne basiert nicht auf dem bewaffneten Kampf, sondern auf dem Aufbau einer demokratischen Gesellschaft.“
(Bianet.org, 12. Mai 2025)
Eine solche Herangehensweise ist für ein unterdrücktes Volk nicht geeignet – insbesondere nicht für ein Volk, das von einem kolonialen Staat aktiv verleugnet und physisch zerstört wird. Das Ziel des „Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft“ reduziert sich im Rahmen der bestehenden Ordnung auf Reformen, lokale Verwaltungsfetischismen und identitätspolitische Repräsentation – solange es keine revolutionäre Perspektive und keinen Bruch mit dem bürgerlichen Staat gibt. Es ist kein Kampf, sondern ein Rückzug – keine Revolution, sondern eine Restauration.
Die Konzepte der „demokratischen Moderne“ und des „Konföderalismus“ sind nicht mit dem revolutionären marxistischen Kampf vereinbar. Diese Theorien haben grundlegende Ziele des marxistischen Programms – wie die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparats und den Aufbau der Diktatur des Proletariats – aufgegeben und durch eine utopische Vorstellung von Klassenversöhnung ersetzt. Diese Utopie lässt sowohl den Klassenkampf als auch die nationale Befreiung in der Schwebe und verurteilt sie zu einem abstrakten Diskurs der Volksdemokratie.
Diese postmodernen Theorien entwaffnen nicht nur den Klassenkampf, sondern auch das Recht eines kolonisierten Volkes auf Befreiung. Die historischen Forderungen des kurdischen Volkes nach Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, nationaler Einheit und Staatsgründung werden durch die Rhetorik des „Konföderalismus“ entkräftet. Marxistisch gesprochen ist das nicht bloß Liquidationismus – es ist ideologische Entwaffnung auf dem Weg zur Integration in den kolonialen Staat.
Für Marxisten sind diese Entwicklungen eine Warnung: Nationale Befreiung ist nur mit der revolutionären Führung der Arbeiterklasse, mit Klassenunabhängigkeit und der Aussicht auf sozialistische Herrschaft möglich. Jede Form von reformistischer Abweichung und theoretischer Vernebelung wird den Kampf der unterdrückten Völker zur Unterstützung der herrschenden Ordnung in die Irre führen. Der Punkt, an dem die PKK heute angekommen ist, ist das klarste und konkreteste Beispiel dafür.
Marxistische Perspektive auf die kurdische Frage: Was ist der revolutionäre Weg?
Die Entscheidungen des 12. PKK-Kongresses und die Linie der „demokratischen Moderne“ versperren – indem sie die Versöhnung mit dem bürgerlichen Staat zur ideologischen Grundlage erheben – den Weg zur tatsächlichen Lösung der kurdischen Frage. Doch aus marxistischer Sicht besteht der einzige realistische Lösungsweg in der vereinigten Revolution unter Führung der Arbeiter*innenklasse.
Die nationale Frage der Kurd*innen ist untrennbar mit der kapitalistischen Entwicklung der Türkei, der Struktur des bürgerlichen Staates und seiner Einbindung in das imperialistische Weltsystem verbunden. Deshalb kann eine Lösung nicht national, sondern nur klassenbasiert erfolgen. Solange nationale Unterdrückung ein Mittel der Klassenherrschaft der Bourgeoisie bleibt, ist nationale Gleichheit nur durch den Sturz dieser Herrschaft möglich.
Die PKK hatte sich mit dem bewaffneten Kampf in eine revolutionäre Kraft verwandelt; sie konnte jedoch die Grenzen der Bourgeoisie nicht überschreiten, solange sie diese Kraft nicht mit der unabhängigen Politik der Arbeiter*innenklasse vereinte. Der heutige Kurs bleibt vollständig innerhalb dieser Grenzen: ideologische Versöhnung mit dem türkischen Staat, Umwandlung der Forderungen nach Unabhängigkeit und Freiheit in leere Demokratisierungsslogans im Rahmen der bestehenden Ordnung.
Doch die vereinte Klassenkampfpraxis der türkischen und kurdischen Arbeiter*innen eröffnet einen Ausweg – sowohl gegen nationale Unterdrückung als auch gegen Ausbeutung. Diese muss sich auf ein revolutionäres sozialistisches Programm stützen, das:
- das Recht der Kurd*innen auf Selbstbestimmung kompromisslos verteidigt,
- die Einheit von armen Kurd*innen und türkischer Arbeiter*innenklasse praktisch organisiert,
- die Organisation der Arbeiter*innen aller Nationen unabhängig von Bourgeoisie und Staat vorantreibt,
- und Kapitalismus und Nationalstaaten überwindet.
Heute wird diese Linie nicht durch die PKK verkörpert. Im Gegenteil: Revolutionäre Marxist*innen müssen die Lücke füllen, die sie hinterlassen hat – nicht bloß theoretisch, sondern als konkrete politische Intervention.
Unter den Bedingungen, dass die PKK ideologisch entwaffnet ist, nationale Forderungen aufgibt, sich vom Klassenkampf löst und auf eine reformistische Linie abdriftet, sind die revolutionären Sozialisten dafür verantwortlich, den Befreiungskampf des kurdischen Volkes wieder auf einen klassenorientierten und internationalistischen Boden zu stellen. Der Aufbau diesr Achse wird durch die Vereinigung des Kampfes der Arbeiter*innenklasse in der Westtürkei mit dem Wunsch nach nationaler Befreiung in Kurdistan auf revolutionärer Basis möglich sein.
Was dafür notwendig ist, sind weder Marotten wie eine „demokratische Modernität“ noch zivilgesellschaftlicher Pazifismus, sondern eine revolutionäre Klassenpolitik. Der Aufbau einer internationalistischen kommunistischen Partei bildet die organisatorische Grundlage für diese Politik. Die wirkliche Lösung der kurdischen Frage ist mit dem Ziel einer sozialistischen Föderation unter dieser unabhängigen revolutionären Führung der Arbeiter*innenklasse möglich.
Revolutionäre Positionierung im neuen Prozess: Die Aufgaben der Marxist*innen
Die auf dem 12. Kongress der PKK eingeschlagene neue Linie ist nicht einfach eine Entscheidung, den bewaffneten Kampf zu beenden. Sie ist zugleich die Erklärung der Liquidierung nationaler Forderungen, des ideologischen Friedens mit der bürgerlichen Ordnung und einer bewussten Versöhnung mit dem kolonialistischen Staat. Angesichts dieses Bildes ist es nicht ausreichend, wenn marxistische Revolutionär*innen nur Kritik üben – sie müssen vielmehr eine revolutionäre Alternative zum Liquidationismus aufbauen.
Die nachtrabenden Strömungen innerhalb der türkischen Linken begleiten die historische Krise der kurdischen Bewegung. Heute unterstützen viele sozialistische Gruppen, die im Reformismus versinken, entweder offen die Linie der PKK von der „radikalen Demokratie“ oder verharren – trotz Kritik – in klassenfremder Distanz auf ähnlichen Positionen. Doch die Liquidation der PKK schafft ein neues politisches Vakuum und neue Möglichkeiten für Revolutionär*innen. In dieser neuen Etappe lauten die Aufgaben der Marxist*innen:
- Eine revolutionäre Perspektive aufzubauen, die die Lösung der kurdischen Nationalfrage als Teil des Klassenkampfs begreift,
- Die gemeinsame, internationalistische Klassenkampfpraxis der türkischen und kurdischen Arbeiter*innen zu verteidigen,
- Die vom PKK-Apparat aufgegebenen Forderungen wie Unabhängigkeit, Autonomie und Selbstbestimmung auf einer klassenkämpferischen Grundlage wiederaufzunehmen,
- Und eine unabhängige revolutionäre Organisierung des Proletariats gegenüber der ideologischen Kapitulation der PKK zu entwickeln.
Der Wunsch nach Freiheit innerhalb des kurdischen Volkes ist real und legitim. Doch er wird durch leere reformistische Konzepte wie „demokratische Republik“, „lokale Demokratie“ und „Friedensprozess“ entwertet. Die einzige reale Perspektive für die Befreiung der kurdischen Arbeiter*innen liegt in einer Strategie, die ihre Klassenkraft und ihren Zorn mit der türkischen Arbeiter*innenklasse vereint und die bürgerliche Ordnung ins Visier nimmt.
Diese Strategie ist nicht der „Friedensprozess“, sondern der revolutionäre Prozess. Sie basiert nicht auf Parlamenten, sondern auf Arbeiter*innenräten. Sie bedeutet keine Versöhnung, sondern Revolution.
Heute besteht die Aufgabe marxistischer Revolutionärinnen nicht darin, sich dorthin zu stellen, wo die PKK sich zurückgezogen hat, sondern darüber hinauszugehen. Statt Rückzug, Selbstauflösung und Anpassung an die bestehende Ordnung, braucht es eine Linie zum Aufbau der revolutionären Organisation der Arbeiterinnenklasse, die vorrückt und die Bourgeoisie aufs Korn nimmt. Die Lösung der kurdischen Frage liegt nicht in der demokratischen Moderne, sondern in der sozialistischen Revolution. Und das ist auch der einzige Weg, die ideologische Einkreisung zu durchbrechen, die der kapitalistische türkische Staat heute unter dem Banner einer „neuen Lösung“ erneut aufzubauen versucht.
Die Erwartung des türkischen Staates: Ein neuer Friedensprozess durch „Führer Apo“?
Die Beschlüsse des 12. PKK-Kongresses und die anschließenden Erklärungen entsprechen der Erwartung des Staates nach einem neuen „Lösungsprozess“, wie er seit Jahren konzipiert wird. Dass Abdullah Öcalan erneut ins Zentrum dieses Prozesses gerückt wird, zeigt deutlich, wie sehr er vom Erdoğan-Bahçeli-Regime instrumentalisiert wird. Die parlamentarischen Appelle und politischen Initiativen nach Bahçelis Aufruf waren nicht bloß symbolisch, sondern strategisch.
Das Ziel ist es, die kurdische Bewegung von all ihren Forderungen zu säubern und sie in einem personalisierten „Normalisierungsprozess“ neu zu definieren. Dieses Vorhaben steht im Einklang mit dem Wunsch der türkischen Bourgeoisie, eine neue Verhandlungsrunde zu beginnen, um ihre innere Legitimationskrise zu überwinden und ihre außenpolitische Blockade zu lösen. Während Erdoğan erneut einen Friedensmanöver benötigt, um seine Herrschaft zu sichern, will Bahçeli den Prozess in Form eines kontrollierten Liquidationismus vereinnahmen.
Öcalan wird in dieser neuen Konstellation aufgrund seines historischen Gewichts instrumentalisiert. Doch entscheidend ist, was diese „Lösung“ eigentlich lösen soll: Nicht die Befreiungsforderungen des kurdischen Volkes, sondern dessen Kampfdynamik. Nicht die militante Selbstverteidigung des Volkes, sondern ein Ordnungszustand des Schweigens, in dem der Staatsumbau reibungslos fortgeführt werden kann.
Die Haltung der sozialistischen Bewegung und die Notwendigkeit der revolutionären Perspektive
Ein großer Teil der sozialistischen Bewegung in der Türkei tut sich schwer, den reformistischen Kurs der PKK und ihren Klassenentfremdung zu kritisieren. Einige romantisieren diesen Prozess, andere akzeptieren ihn schweigend oder lehnen ihn mit sozialchauvinistischen Reflexen ab. Statt einer revolutionären Strategie tritt an ihre Stelle die postmoderne reformistische Theorie – begründet mit Begriffen wie „demokratische Moderne“ oder „Völkerfreundschaft“. Diese Haltung beraubt nicht nur das kurdische Volk seiner Perspektiven, sondern auch die türkische Arbeiter*innenklasse.
Dagegen vertritt eine revolutionäre marxistische Linie offen Folgendes: Die Klasseneinheit der kurdischen und türkischen Arbeiter*innen muss sowohl den revolutionären Kampf gegen die nationale Unterdrückung als auch gegen die Ausbeutung durch das Kapital organisieren. Der revolutionäre Kampf gegen nationale Unterdrückung bedeutet, dass das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes bedingungslos verteidigt werden muss. Aber die marxistische Lösungslinie führt diesen Kampf nicht in dem von den bürgerlichen Führungen gesetzten Rahmen, sondern vereint ihn mit der internationalen Strategie der Arbeiterklasse. Würde sich die kurdische Bewegung auf eine klassenunabhängige Strategie stützen, so ginge es ihr nicht nur darum, sich dem Staat nicht zu beugen, sondern darum, den politischen Ausdruck der Dynamik der kurdischen Forderungen innerhalb der Arbeiter*innenklasse zu organisieren. Das wiederum erfordert, sich auf die Strategie der permanenten Revolution zu stützen – anstelle reformistischer Lösungen.
Der Weg zum freien Kurdistan führt über die permanente Revolution
Die mit dem 12. Kongress der PKK eingeleitete „neue Phase“ bedeutet nicht nur das Ende des bewaffneten Kampfes. Sie bedeutet auch die Aufgabe der Idee der nationalen Befreiung, der Unabhängigkeit und jeder revolutionären Perspektive auf die Zukunft. Die kurdische Bevölkerung wird nicht mehr als kämpfendes Subjekt, sondern als pazifizierte, entwaffnete, ideologisch gefangene Opposition innerhalb des Staates betrachtet. Das ist keine Lösung, sondern Teil einer inneren Restauration der bestehenden Ordnung.
An diesem Punkt tritt ein zentraler Grundsatz des revolutionären Marxismus klar hervor: Die wirkliche Befreiung eines kolonisierten Volkes ist nur möglich durch die Zerschlagung seiner eigenen Bourgeoisie – und jener des Kolonisators.
Das kurdische Volk hat Jahrzehnte lang unter großen Opfern für seine nationale Befreiung gekämpft – Tausende Tote, Millionenfache Akte des Widerstands. Doch heute droht dieser historische Schatz unter postmodernen Ideologien, klassenfremden Allianzen und illusionsgetriebenen Reformträumen im System begraben zu werden.
Die wirkliche Lösung ist die permanente Revolution im Kurdistan: Sie verteidigt bedingungslos das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes, verankert dieses Recht aber in der Arbeiter*innenklasse und bei den armen Bauern – nicht bei der Bourgeoisie. Die Ppektive der Machtausübung durch die Arbeiter*innenklasse in Kurdistan ist die Grundlage sowohl der nationalen Befreiung als auch der sozialistischen Revolution in der Region.
Ein freies Kurdistan kann nicht als kapitalistischer Nationalstaat entstehen, sondern nur als Teil einer sozialistischen Sowjetföderation des Nahen Ostens. Die vereinte Zukunft des Kurdistan in der Türkei, im Iran, im Irak und in Syrien kann nur durch den internationalistischen Kampf gegen Imperialismus und kapitalistische Diktaturen geschaffen werden.
Die Aufgabe liegt also auf der Hand: die Einheitsfront der kurdischen und türkischen Arbeiter*innen, das Hissen der Fahne der sozialistischen Sowjets des Nahen Ostens.
Und der Aufbau der internationalistischen kommunistischen Partei, die die theoretische und praktische Führungskapazität hat, um diese Front organisieren zu können. Diese Partei wird jenseits von Reformismus, Identitätspolitik und Lösungen im Rahmen der bestehenden Ordnung mit einem klassenrevolutionären Programm die nationalen Forderungen des kurdischen Volkes mit dem Kampf für die sozialistische Herrschaft der Arbeiter*innenklasse verbinden. Was heute notwendig ist, ist kein Friedensprozess, sondern ein revolutionärer Prozess.
Die Befreiung des kurdischen Volkes ist nur durch die permanente Revolution der Völker in der Region möglich.
Die Befreiung der kurdischen Arbeiter*in wird zusammen mit dem Brechen seiner Ketten vom bewaffneten Kampf bedeutet nicht nur, dass die Wünsche des kurdischen Volkes auf parlamentarische Träume und die Erwartungen an die Integration in den Staat reduziert werden. Gleichzeitig bedeutet diese Entscheidung, dass die historischen Forderungen des kurdischen Volkes nach dem Recht auf Selbstbestimmung und nationaler Befreiung vollständig vom Horizont einer revolutionären Lösung ausradiert werden.
Diesen Prozess lediglich als taktische Korrektur zu interpretieren, hieße, die offene strategische Liquidation zu legitimieren. Die Umwandlung der PKK – und allgemeiner der kurdischen Bewegung – wurde durch postmoderne Theorien wie „demokratische Moderne“, „radikale Demokratie“ und „Konföderalismus“ geprägt; die revolutionäre Perspektive des Marxismus, die auf Klassenkampf und revolutionärem Bruch basiert, wurde als „überwunden“ erklärt. Doch die konkrete Bedeutung dieses angeblichen „Überwindens“ war die Versöhnung mit dem bürgerlichen Staat, die Integration in den Kapitalismus und die Aufgabe des Traums von nationaler Befreiung.
Das kurdische Volk erlebt nicht nur den Verzicht auf den bewaffneten Kampf, sondern auch den Abschied von der Idee der Unabhängigkeit. Doch diese Linie der Kapitulation ist kein unausweichliches Schicksal, sondern eine politische Entscheidung. Das kurdische Volk kann einen anderen Weg einschlagen – gemeinsam mit der Arbeiter*innenklasse und den Unterdrückten in der Türkei: den Weg der permanenten Revolution.
Die permanente Revolution vereint das Selbstbestimmungsrecht der Kurd*innen mit der Perspektive einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens. Das ist das einzige historische Programm, das nationale Befteiung und Klassenbefreiung miteinander verbindet. Weder Reformen im Rahmen des türkischen kapitalistischen Staates noch imperialistisch abgesteckte Autonomieprojekte bieten diese Freiheit. Die Befreiung des unterdrückten kurdischen Volkes ist nur durch einen revolutionären Kampf gemeinsam mit den Arbeiter*innen der Türkei, des Irak, Syriens und Irans möglich – in der Errichtung eines sozialistischen Nahen Ostens.
Um diesen Weg zu beschreiten, ist der Aufbau einer kommunistischen, internationalistischen Führung unabdingbar. Der Aufbau einer revolutionär-marxistischen Partei in der Türkei und in Kurdistan ist heute nicht nur für den Klassenkampf in der Türkei, sondern auch für die Befreiung des kurdischen Volkes und der gesamten unterdrückten Massen im Nahen Osten von zentraler Bedeutung.
Diese Partei muss – gegen den Nebel von Reformismus, Liberalismus und Postmodernismus – das Banner der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse und die Prinzipien des kommunistischen Internationalismus hochhalten.
Heute braucht es keinen neuen „Lösungsprozess“, sondern einen sozialistischen Aufbruch. Ein freies Kurdistan ist nur als Teil der sozialistischen Sowjets des Nahen Ostens möglich. Die einzige realistische Option in diese Richtung ist der Aufbau einer revolutionären kommunistischen internationalistischen Parte. Das isti der einzige Weg, um die Grenzen des Kapitalismus und des kolonialen Staates zu durchbrechen.
Dilan Bilici (EKIB), 15. Mai 2025)