Die menschenrechtliche Fassade der bürgerlichen Demokratie bröckelt weiter

Lernen wir Geschichte!

Schwarz auf Weiß steht es geschrieben, veröffentlicht am 2. Juli 2025, im Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich:

„Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit sind gefährdet.“

In trauter Eintracht: SPÖ-Minister*innen unterschreiben neben ÖVPlern und machen sich zu Mitschuldigen.. Bundesgesetzblatt mit der infamen Notverordnunng zum Familiennachzug.

Was ist geschehen? Welche Unruhen erschüttern die gemütliche Alpenrepublik?

Die gesetzliche Feststellung der Gefährdungslage hat selbstverständlich keine faktische Grundlage, sondern einen politischen Grund und der ist die Instrumentalisierung der Ressentiments gegenüber Migrant*innen. Der „Große Austausch“, „Festung Europa“, generell Sündenbockrhetorik treiben faschistoide Parteien, wie die FPÖ, ebenso an, wie die einstmals Christlich-Konservativen, die in Wort und Tat – auch unter Druck einer libertär-populistischen Medienlandschaft – den Kickls, Höckes und Trumps hinterherhecheln. Die Sozialdemokrat*innen machen als Preis für die Regierungsbeteiligung und zur Befriedung des innerparteilich-heiseren Law and Order Flügels stillschweigend mit, wie die Unterschriften sämtlicher SP-Regierungsmitglieder im betreffenden Bundesgesetzblatt zeigen.

ÖVP will FPÖ das „Ausländerthema“ wegschnappen

Die Story dahinter ist schnell erzählt: das letzte Aufgebot der türkis-rückwärtsgewandten kernösterreichischen Länder Ober u Niederösterreich, Gerhard Karner und Claudia Plakolm haben das „Ausländerthema“ für die ÖVP gegen die Dominanz der FPÖ zu besetzen und sie spielen das garstige Lied in allen Variationen hinauf und hinunter. Unter anderem sollte ein weiteres Zeichen gegen die „ungezügelte“ Zuwanderung gesetzt werden und hier bot sich die Familienzusammenführung an. Zusammenführung, ja, aber in den Herkunftsländern, in Österreich solle es aber praktisch keine neuen Zuwanderer mehr geben. Das konnte durch die Regierungsverordnung verordnet werden, zunächst auf sechs Monate begrenzt, Verlängerung jederzeit möglich.

Interessant, ist doch gerade Frau Plakolm eine große Verteidigerin der Familie, wie sie am 25. März 2025 im STANDARD-Gespräch betonte:

„Für mich bedeutet Familie mein Daheim, wo mehrere Generationen unter einem Dach leben und füreinander sorgen. Mein politisches Leitbild einer Familie ist das von Vater, Mutter und Kindern. Klar ist aber auch, dass Familie in vielen Konstellationen stattfinden kann und wir Menschen niemals vorschreiben, wie sie zu leben haben“.

Na ja, manchen darf man es offenbar schon vorschreiben – nämlich, dass sie getrennt leben müssen.

„Gefährundgslage“ – fieser Trick rechtfertigt fiese Politik

Mit dem Taschenspielertrick einer Gefährdungslage in Österreich schaffte man eine vordergründig EU-konforme gesetzliche Grundlage, um die Familienzusammenführung von in Österreich lebenden schutzberechtigten Personen zu verhindern, also die Trennung von Partner*innen und Kindern gesetzlich festzuschreiben. 

Zivilgesellschaftliche Organisationen, wie Caritas, Diakonie oder Amnesty International kritisieren dieses Vorgehen der österreichischen Regierung scharf: das von der Regierung ins Treffen geführte Argument für die Gefährdung der inneren Sicherheit und der öffentlichen Ordnung ist ja eine behauptete Überforderungssituation vor allem in Wiener Schulen. Dagegen führen die erwähnten Organisationen ins Treffen, dass bildungspolitische Fragen durch Bildungspolitik und nicht durch das Aushöhlen des Menschenrechts auf Familie gelöst werden sollten. Die Bundesregierung möge die Verordnung zurücknehmen und eine Asylpolitik verfolgen, die auf Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Integration beruhe.

Tatsächlich wurden im Februar 2025 lediglich 1.500 positive Asylentscheidungen getroffen (68% weniger im Vergleich zum Vorjahr) und ebenfalls im Februar 2025 lag die Anzahl der über Familiennachzug einreisenden Personen mit 60 Personen auf einem lachhaft niedrigen Niveau.

Ob diese Verordnung vor den österreichischen und europäischen Höchstgerichten hält, wird die Zukunft zeigen.

Was allerdings mehr beschäftigen sollte, ist ein Blick in den Maschinenraum der bürgerlichen Demokratien und der darin (planmäßig) angelegten Webfehler.

Fehlkonstruktion Rechtsstaat und Demokratie an den historischen Beispielen Deutschland und Österreich:

Im Jahr 1933 lief in Deutschland und in Österreich eine wohl kaum abgestimmte Parallelaktion zur Beseitigung der jeweiligen demokratischen Institutionen ab.

In Deutschland war Adolf Hitler im Jänner 1933 zum Reichskanzler eingesetzt worden und schränkte bereits mit einer Notverordnung im selben Monat die Grundrechte ein und im Februar nach dem Reichstagsbrand wurden Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit mit Hilfe einer Notverordnung abgeschafft und die Grundlage für die Verhaftung politischer Gegner für die gesamte Zeit des Nationalsozialismus geschaffen.

In Österreich nutzten die Christlich-Sozialen unter Engelbert Dolfuß im März 1933 den Rücktritt der drei Präsidenten des Nationalrates, um das Parlament auszuschalten und ab diesem Zeitpunkt regierte Dollfuß mit Notverordnungen auf Basis des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes aus 1917, das in den Rechtsbestand der 1. Republik mit übernommen worden war. Über diese Notverordnungen wurde der diktatorische Ständestaat eingerichtet und letztlich sogar die autoritäre Maiverfassung im Jahr 1934 erlassen.

Was diese beiden historischen Sachverhalte gemeinsam haben und was man durchaus auch in einen Kontext mit der aktuellen Verordnung zur Familienzusammenführung stellen kann, ist die Fassadendemokratie bürgerlichen Zuschnitts: 

  • In Deutschland war die Notverordnungskompetenz mit der die Nationalsozialisten ihr Terrorregime errichteten schon in Art 48 der Weimarer Verfassung vorgesehen
  • In Österreich der 1. Republik gab es zwar das Notverordnungsrecht nicht in der Verfassung, aber ein Gesetz aus dem 1. Weltkrieg zur Wirtschaftslenkung gedacht, konnte legalistisch korrekt den Austrofaschismus einführen
  • In Österreich des Jahres 2025 wird die berüchtigte „ordre public“-Klausel verwendet, um verfassungsrechtlich abgesicherte Menschenrechte einzuschränken

NS-Terror, Austrofaschismus, Menschenrechtseinschränkungen können in bürgerlichen Rechtsstaaten ganz legalistisch passieren, ohne dass es zu irgendeiner Form der demokratischen Mitbestimmung durch die Wahlberechtigten kommen müsste. Dass diese Wahlberechtigten in den meisten bürgerlich-demokratischen Staaten nur jenem Teil der Bevölkerung vorbehalten bleibt, der gerne als autochthon bezeichnet wird, und damit in erster Linie Migrant*innen vom Wahlrecht ausschließt, kommt dabei undemokratischerweise hinzu. Es kommt hier beabsichtigt ein “Volksbegriff” zur Anwendung, der Herkunft, Ethnie oder Staatsbürgerschaft über die Klassenzugehörigkeit stellt.

Die komplette Umgestaltung einer Gesellschaft hin zu einem totalitären Unrechtsregime ist also über rechtsstaatlich abgesicherte Winkelzüge möglich und wenn man wie im Falle des Austrofaschismus auch das Höchstgericht „legal“ lahmlegt auch nicht aufhebbar.

All das ist schon ein Problem des bürgerlichen Rechtsstaates an sich (siehe aktuell auch den Trumpismus in den USA), aber viel mehr noch eine Existenzfrage für Minderheiten oder die Arbeiter*innenklasse und ihre politische Führung. Wenn diese sich zögerlich verhält oder überhaupt nicht wehrhaft ist, wird sie von den Institutionen des bürgerlichen Rechtsstaates keinen Schutz erfahren, sondern im Gegenteil vernichtet, wie die Jahre 1933 in Deutschland und Österreich gezeigt haben.

Fehlkonstruktion Menschenrechte in Bürgerlichen Demokratien:

Im Zusammenhang mit der von der österreichischen Regierung erlassenen Notverordnung zum Familiennachzug wird seitens der oben erwähnten NGOs vor allem die Verletzung des Menschenrechts auf Familienleben kritisiert.

Bürgerliche Demokratien rühmen sich üblicherweise dafür, dass ihrem gesamten staatlichen Handeln verfassungsrechtlich abgesicherte Menschenrechte zugrunde liegen und dies ein Wert wäre, der nur in einer Demokratie „westlichen“ Zuschnitts zu haben wäre.

Nun, diese Feststellung wird bereits im vorvorigen Absatz durch NGOs in Frage gestellt. Tatsächlich sind sehr viele in den Verfassungen gewährleistete Menschenrechte unter einem Gesetzesvorbehalt gestellt. Das bedeutet, dass oftmals die „ordre public“, das Aufrechterhalten von öffentlicher Ordnung und Sicherheit, es dem Staat erlaubt, Menschenrechte einzuschränken. Dass dieser Ordnungs u Sicherheitsbegriff durchaus willkürlich verwendet werden kann, um Rechte einzuschränken, hat die aktuelle österreichische Regierung gerade eindrucksvoll bewiesen. Und man sollte sich vor Augen führen, dass wir es hier gerade noch nicht mit der autoritärsten Variante von denkbaren Regierungskonstellationen in Österreich zu tun haben. 

Aber im Grunde ist dieses Spannungsfeld der Relativierung von Menschenrechten durch wie immer geartete staatliche Interessen noch immer ein inneres Problem der Bürgerlichen Demokratien und ihrer vordergründigen Glaubwürdigkeit.

Die aus marxistischer Sicht wesentlichere Kritik an den Menschenrechten ist ihre Funktion in der Bürgerlichen Demokratie, nämlich die tatsächlichen Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten. Wir wissen, dass der Bürgerliche Staat nicht neutral ist, sondern immer ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Herrschaft der besitzenden Klassen. Die Menschenrechte, wie sie im bürgerlichen Staat definiert sind, spiegeln daher die Interessen dieser Klasse wider.

Marx über Freiheitsrechte – aktuell wie eh und je

Karl Marx hat diese Thematik bis heute gültig zusammengefasst und auch den Finger in die brennendste Wunde der Menschenrechte gelegt.

Er argumentiert, dass die Menschenrechte im bürgerlichen Staat vor allem formale Rechte sind. Sie garantieren zwar rechtlich die Gleichheit und Freiheit aller Bürger, aber in der Realität bleibt die soziale Ungleichheit bestehen. Weiters kritisiert er, dass die Menschenrechte den Menschen vor allem als isoliertes, egoistisches Individuum sehen, das seine eigenen Interessen verfolgt. Die Rechte schützen vor allem die Freiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat und anderen Menschen, aber sie fördern nicht unbedingt das Gemeinwohl oder die Solidarität.

Das zentrale Menschenrecht im bürgerlichen Staat ist das Recht auf Privateigentum. Marx sieht darin ein Mittel, die bestehende Klassenstruktur zu erhalten: Reiche können ihr Eigentum schützen, während die Besitzlosen formal zwar die gleichen Rechte haben, aber praktisch benachteiligt bleiben.

Diese Überlegungen gipfeln dann in die berühmte Gegenüberstellung der „politischen Emanzipation“ (Gleichheit vor Gesetz, bürgerliche Rechte) und der „menschlichen Emanzipation“ (tatsächliche Befreiung von Ausbeutung und Entfremdung). Damit ist die Forderung nach einer sozial gerechten Gesellschaft verknüpft, in welcher erst die Rechte und Freiheiten verwirklicht werden könnten.

„Keines der sogenannten Menschenrechte geht über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. als auf sich zurückgezogenen, auf das Privatinteresse und den Privatgenuss versessenen Einzelnen und als von der Gemeinschaft getrennten Menschen.“

Und weiter:

„Das Recht des Menschen auf Freiheit ist nicht etwa das Recht auf Freiheit im Verhältnis zum anderen Menschen, sondern vielmehr das Recht auf die Absonderung vom anderen Menschen, das Recht, auf sich selbst, auf den eigenen Nutzen bedacht zu sein.“

Wenn also von Menschenrechtsorganisationen und zivilgesellschaftlichen NGOs das Verlassen der Rechtsstaatlichkeit und das Aushöhlen der Menschenrechte beklagt wird, sollten wir diese Kritik zwar unterstützen, aber klar erkennen, dass es nicht darum gehen kann die Regierenden zu den Tugenden des Bürgerlichen Rechtsstaates zurückzubringen, da diese Tugenden, wie die Geschichte und die Gegenwart zeigen, Scheintugenden sind, die in Wirklichkeit überwunden gehören.

Gruppe KLASSENKAMPF, Anfang 2025