Am 14. Jänner 1930 schoss das KPD-Mitglied Albrecht Höhler dem 22jährigen SA-Sturmführer Horst Wessel in den Kopf, als dieser die Tür seiner Untermietwohnung in Berlin-Friedrichshain öffnete. Hintergrund der Tat scheint ein Streit zwischen Wessels Freundin und der Vermieterin der Wohnung gewesen zu sein. Der Ex-Student und damalige Hilfsarbeiter Wessel starb am 23. Februar ’33 im Städtischen Krankenhaus Friedrichshain an einer Blutvergiftung. NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels nutzte den Mord, um den Anführer des besonders gewalttätigen Stum 5 der Berliner SA zum „Märtyrer der Bewegung“ hochzustilisieren.
Nachdem am 13. Juli 1936 eine der zentralen Persönlichkeiten der monarchistischen und faschistischen Opposition gegen die spanische Republik, José Carlo Sotelo, von Angehörigen der Guardia de Asalto und der Guardia Civil ermordet worden war, erklärte einer der historischen Gründer der faschistischen Falange, Onésimo Redonde, pathetisch: „In diesem Blut ertrinkt die Republik“.
Das Blut als Banner: Wie Reaktionäre und Faschist*innen einen Mord instrumentalisieren
Der Mord an dem US-amerikanischen faschistischen Aktivisten Charlie Kirk wird von den faschistoiden und extrem rechten Kräften Europas in einer schamlosen politischen Kampagne instrumentalisiert, um die eigene Radikalisierung voranzutreiben und „die Linke“ zu kriminalisieren. Diese vage „Linke“ umfasst im Weltbild dieser Kräfte alles von liberalen Anhänger*innen einer bürgerlichen Demokratie bis hin zu wirklichen Kommunist*innen. In einer Manöver, das in seiner Grobheit an die Ereignisse vor dem spanischen Bürgerkrieg erinnert, wird Kirk nicht nur als Märtyrer stilisiert, sondern sein Tod auch als Fanal für eine gewaltsame Auseinandersetzung mit den „linksradikalen“ Kräften inszeniert.
Die Witwe Kirks, Erika Kirk, lieferte in einer aufreizenden Rede die ideologische Munition für diese Offensive. Ihre Worte, die sie als einen „Schlachtruf“ für die globale Bewegung ihres Mannes beschrieb, sind ein direkter Aufruf zur Mobilisierung. „Die Schreie, die ihr hört, werden wie ein Schlachtruf durch die ganze Welt hallen“, erklärte sie, und damit ein neues Kapitel im Krieg gegen „die Kommunisten“ und „die Islamisten“ ankündigte. Diese Sprache des Blutes und der Rache ist keine zufällige Rhetorik; sie ist ein Werkzeug, das darauf abzielt, die Wut der reaktionären Basis zu entfesseln und in organisierte politische Gewalt zu lenken.
Ein „Blutopfer der Bewegung“ wird geboren
Die faschistoiden und ultrareaktionären Parteien Europas, von der AfD in Deutschland über das Rassemblement National in Frankreich bis hin zu den Fratelli d’Italia in Italien, haben diese Gelegenheit mit beiden Händen ergriffen. Im Europäischen Parlament forderte der ECR-Block eine Schweigeminute für Kirk und nominierte ihn für den Sacharow-Preis für Gedankenfreiheit. Dies ist eine groteske Farce: Ein bekannter Antisemit, der rassistische Verschwörungstheorien verbreitete, wird von neofaschistischen Kräften als Verfechter der Meinungsfreiheit gefeiert. Ihre Absicht ist klar: die Begriffe zu pervertieren und den Faschismus als eine legitime Form der „Opposition“ zu etablieren.
Führende Vertreter*innen dieser Strömungen, wie Alice Weidel, Jordan Bardella und Giorgia Meloni, reihen sich in die Trauerbekundungen ein. Sie behaupten, Kirks Tod sei das Ergebnis einer angeblichen „dehumanisierenden Rhetorik der Linken“, die politische Gewalt schüre. Diese Behauptung ist eine schamlose Umkehrung der Realität. Es sind ihre eigenen Parteien, die seit Jahren durch rassistische Hetze, fremdenfeindliche Agitation und antifeministische Parolen ein gesellschaftliches Klima der Gewalt schaffen.
Die Ermordung des US-amerikanischen Aktivisten Charlie Kirk wird von den erstarkenden britischen Faschisten rund um Tommy Robinson gezielt instrumentalisiert, um die größte rechtsextreme Kundgebung seit Jahrzehnten in Großbritannien zu mobilisieren. Die Tötung Kirks wird dabei als Vorwand genutzt, um eine seit langem geplante Kundgebung in London, die als „Free Speech Festival“ (Fest der freien Rede) beworben wird, zu legitimieren und zu befeuern.
Englische Faschisten und österreichische Identitäre – in Trauer vereint
Tommy Robinson, geborener Stephen Yaxley-Lennon, verbreitete in einem Video an seine Anhängerinnen die These, dass Kirk entweder von einer Einzelperson, einer „Organisation, einer Körperschaft oder der Regierung“ ermordet worden sei, obwohl die genauen Motive und Täter zu diesem Zeitpunkt unklar waren und erst später ein Verdächtiger festgenommen wurde. Diese Rhetorik ist darauf ausgerichtet, eine Verschwörungsmentalität zu schüren und die Anhängerinnen in einem Narrativ der Bedrohung durch eine vermeintlich „linke“ oder „staatliche“ Gewalt zu vereinen.
Die Kundgebung, zu der auch Redner*innen aus den USA und Europa erwartet werden, zieht eine breite Mischung aus extrem reaktionären Kräften an. Die Teilnehmer*innen rekrutieren sich nicht nur aus traditionellen faschistischen Kreisen, sondern auch aus Gruppierungen, die sich in letzter Zeit bei Protesten gegen die Unterbringung von Asylsuchenden radikalisiert haben. Zusätzlich wird die Kundgebung durch ein Netzwerk von Fußballfans und Hooligan-Gruppierungen unterstützt, die auch Verbindungen zur English Defence League (EDL) haben.
In Österreich versuchen die Identitären, die mit Kirk vieles verbindet, auf den Zug aufzuspringen. Bei einer Kundgebung vor der US-Botschaft in Wien „trauerten“ sie um den ermordeten Hassprediger, der wie sie vor dem „Großen Austausch“ zitterte und nach Außen hin die Theorien der „Neuen Rechten“ teilte.
Widersprüche im bürgerlichen Lager
Der angebliche „Kampfruf“ der Witwe ist kein spontaner Gefühlsausbruch, sondern wird sofort in die Superstruktur des politischen Klassenkampfes integriert. Er dient als ein ideologisches Mittel, um die reaktionäre Bewegung zu mobilisieren, die Charlie Kirk repräsentierte.
Charlie Kirk war kein zufälliges Individuum. Er war eine Schlüsselfigur in der Mobilisierung junger Menschen für die Interessen des reaktionärsten Flügels der amerikanischen Bourgeoisie. Seine Organisation, Turning Point USA, ist kein Hobbyverein, sondern ein Instrument zur Sicherung der herrschenden Ordnung. Seine Rhetorik von „Patriotismus“ und „Gottes barmherziger Liebe“ ist nichts anderes als ein ideologischer Überbau, der die eigentlichen materiellen Interessen – die Verteidigung des Privateigentums und des Imperialismus – verschleiert. Zugleich wird der Eindruck eines im Grunde friedlichen Predigers der MAGA-Träume erweckt. Kirk hat jedoch nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, bewiesen, dass er seine Version des amerikanischen faschistischen Traums auch mit Gewalt durchzusetzen bereit ist. Er und seine „Bewegung“ waren aktiv am Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021 beteiligt. Sein Tod wird von seiner Bewegung und ihren Verbündeten sofort instrumentalisiert, um die Reihen zu schließen und die politischen Widersprüche des Systems zu vertiefen.
Gewalt – business as usual in der US-Politik
Das Attentat auf Kirk und die jüngste Welle von Schießereien an Schulen und Universitäten in den USA selbst ist ein Ausdruck der zugespitzten Widersprüche innerhalb der US-Gesellschaft. Während der Kapitalismus in seine tiefste Krise seit den 1930er-Jahren eintritt, zerfallen nicht nur die wirtschaftlichen Grundlagen, sondern auch die politischen und sozialen Beziehungen. Die Gewalt ist kein Zufallsprodukt, sondern eine notwendige Begleiterscheinung dieses Zerfalls. Sie entspringt aus der Unfähigkeit des Systems, die grundlegenden Klassengegensätze zu lösen, und manifestiert sich in individuellen Akten, die von der politischen Elite für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert werden. Im Juni sind im US-Bundesstaat Minnesota die demokratische Politikerin Melissa Hortman und ihr Ehemann von einem faschistischen Evangelikalen erschossen worden. Der gesamte Aufstieg Trumps ist von einer zunehmenden Welle reaktionärer Gewalt begleitet. Der mörderische Nazi-Aufmarsch in Charlotteville im August 2017, die tödlichen Schüsse des damals 17jährigen Kyle Rittenhouse auf Demonstrant*innen bei einer Black Lives Matter-Kundgebung im August 2020, das geplante Komplott faschistischer Milizanhänger zur Entführung und Ermordung der Demokratischen Senatorin von Michigan Gretchen Whitmer im gleichen Jahr, das Hammerattentat auf Paul Pelosi, den Mann der Demokratischen Senatssprecherin 2022 widerlegt die weinerlichen Statements führender Politiker*innen beider großen Lager in den USA, Gewalt in der Politik sei quasi etwas “Unamerikanisches”. Die Gewalt ist kein isoliertes Problem, sondern ein unvermeidliches Resultat der Krise der imperialistischen Bourgeoisie.
Schon blöd: Governor Cox (Utah) betet 33 Stunden, dass der Mörder von Charlie Kirk ein Ausländer oder zumindest aus einen anderen Bundesstaat ist. Und dann stellt sicher heraus, dass der Schütze ein mormonischer Waffennarr aus einer gläubigen MAGA-Familie ist. Und weiß obendrein.
Dieser Prozess der Radikalisierung zeigt, wie ein singuläres Gewaltverbrechen als Katalysator für die Mobilisierung und Bündelung von reaktionären Kräften genutzt wird. Ähnlich wie im Falle Calvo Sotelos in Spanien, wird hier ein Mord politisch instrumentalisiert, um Wut zu schüren und eine diffuse Wählerschaft in eine militante Massenbewegung zu verwandeln, die sich durch die Schaffung eines „Märtyrers“ und einer emotionalen Blut-Rhetorik weiter festigt und radikalisiert.
Sozialdemokraten, „Demokraten“ und erschrockene Liberale als Zuarbeiter
Diese Kampagne könnte ohne die direkte oder indirekte Kollaboration der bürgerlichen Medien und der reformistischen Parteien nicht erfolgreich sein. Anstatt die faschistischen Ideen Kirks und die dahinterstehenden politischen Manöver zu entlarven, publizieren „liberale“ Medien wie der Guardian und Le Monde wohlklingende Nachrufe und mahnen zu „Einheit“ und „Toleranz“.
Keir Starmer, der Führer der britischen Labour-Partei, bekundet seine „tiefe Betroffenheit“ über den Tod Kirks und erklärt, dass „politische Gewalt“ keinen Platz habe. Dies ist Heuchelei auf höchstem Niveau. Dieselben Politiker*innen, die für Kirk Tränen vergießen, verurteilen die friedlichen Proteste gegen den Genozid in Palästina und lassen Aktivistinnen verhaften. Keir Starmer hetzt unter Ausnutzung der Anti-Terror-Gesetze Prügelpolizei auf Demonstrant*innen, die sich mit „Palestine Action“ solidarisieren.
Die dialektische Natur dieser Entwicklung ist offensichtlich. Die fortgesetzten Lügen und reaktionären Provokationen von Figuren wie Kirk führen zur Polarisierung. Wenn die dadurch erzeugten Spannungen in Gewalt umschlagen, wird diese Gewalt sofort von der herrschenden Klasse und ihren reaktionären Kräften instrumentalisiert, um einen ideologischen Keil in die Gesellschaft zu treiben und eine neue Runde der Hexenjagd gegen Antifaschist*innen und Aktivist*innen der Arbeiter*innenbewegung einzuleiten. Die herrschende Klasse ist bereit, mit den faschistoiden Kräften zu paktieren, um die revolutionären Tendenzen in der Arbeiter*innenklasse zu unterdrücken. Die Gewalt und Provokation von Figuren wie Charlie Kirk (der unter anderem die rassistische „Great Replacement Theory“ verbreitete und den Civil Rights Act als „Riesenfehler“ bezeichnete) erzeugen eine Polarisierung, die wiederum die Grundlage für eine Zuspitzung schafft. Wenn diese Zuspitzung in Form von politischer Gewalt eintritt, wird sie wiederum von der Rechten genutzt, um die eigene Radikalisierung zu rechtfertigen und voranzutreiben. Es ist ein sich selbst verstärkender Kreislauf aus Provokation, Eskalation und Instrumentalisierung.
Politische Krise der herrschenden Klasse
Die Spaltung zwischen den „demokratischen“ und den reaktionären Flügeln ist Ausdruck der tiefen Krise der herrschenden Klasse. Wie die Reaktion auf das Ende Kirks zeigt, siegt aber letzten Endes immer die Klassensolidarität der Bourgeoisie. In den USA, ebenso wie in anderen kapitalistischen Ländern, ist die herrschende kapitalistische Klasse in sich uneins, auf welchem Weg sie ihre Interessen am besten durchsetzt – auf dem traditionellen, friedlichen Weg der bürgerlichen Demokratie, oder mit autoritären Mitteln, wie in Ungarn, Italien und immer stärker in den USA. Einig sind sich beide – man muss mit allen Mitteln rechtzeitig der drohenden Explosion der Unzufriedenheit der Massen beikommen.
Das Fehlen einer in den werktätigen Massen der USA verankerten proletarischen Partei wird auch weiterhin vor allem junge Menschen in ihrer Empörung zu falschen und letztlich sogar schädlichen Taten verleiten. In einem Artikel für die österreichische sozialdemokratische Zeitschrift „Der Kampf“ schrieb Trotzki 1911 mit Blick auf die sich am Vorabend des 1. Weltkrieges häufenden terroristischen Taten in Europa:
„Doch weitaus tiefer ist die Verwirrung, die die Terroranschläge in den Reihen der Arbeitermassen selbst stiften. Wenn es genügt, sich mit einer Pistole zu bewaffnen, um ans Ziel zu gelangen, wozu dann die Mühe des Klassenkampfes? Wenn man die Oberen mit dem Knall eines Schusses einschüchtern kann, wozu. dann eine Partei?“ (Trotzki, 1911)
Der Reaktion und dem Faschismus kann die Arbeiter*innenklasse nur durch ihre gemeinsame, politisch und programmatisch begründete, Massenaktion entgegentreten. Dazu bedarf es einer revolutionären Partei, die auf der Grundlage des Marxismus die Lehren aus den vergangenen Kämpfen gezogen hat. Der Kampf für eine solche Partei bedeuet auch die Propaganda und Verwirklichung der Selbstverteidigung der Arbeiter*innenorganisationen gegen den drohenden faschistischen und staatlichen Terror.
Die beispiellosen Verbrechen des Faschismus erzeugen einen völlig gerechtfertigten Rachedurst. Doch die Menge dieser Verbrechen ist so ungeheuerlich, daß dieser Durst nicht durch den Mord isolierter faschistischer Bürokraten gestillt werden kann. Dazu müssen Millionen, zehn und hunderte Millionen Unterdrückter in der ganzen Welt mobilisiert und zum Ansturm gegen die Grundlagen der alten Gesellschaft geführt werden. Nur der Sturz aller Formen der Versklavung, die völlige Vernichtung des Faschismus, nur die Ausübung der schonungslosen Justiz des Volkes gegen die zeitgenössischen Banditen und Gangster können der Empörung des Volkes eine wirkliche Genugtuung verschaffen. (Trotzki, Für Grynszpan)