Über die Notwendigkeit und Prinzipien einer neuen Internationale (26. August 1933)
In voller Erkenntnis der großen geschichtlichen Verantwortung, die auf ihnen liegt, haben die unterzeichnenden Organisationen einmütig entschieden, ihre Kräfte für gemeinsame Arbeit für die Regeneration der revolutionären proletarischen Bewegung im internationalen Maßstab zu verbinden. Als Grundlage für ihre Tätigkeit legen sie die folgenden Prinzipien fest:
1. Die tödliche Krise des imperialistischen Kapitalismus, die die Stützen unter dem Reformismus (Sozialdemokratie, die Zweiten Internationale, die Bürokratie des Internationalen Gewerkschaftsbundes) weggezogen hat, stellt gebieterisch die Frage des Bruchs mit reformistischer Politik und des revolutionären Kampfes für die Machteroberung und die Errichtung der proletarischen Diktatur als einzigem Mittel für die Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische Gesellschaft.
2. Das Problem der proletarischen Revolution trägt seiner ganzen Natur nach einen internationalen Charakter. Das Proletariat kann eine vollständig sozialistische Gesellschaft nur auf der Grundlage der weltweiten Arbeitsteilung und Zusammenarbeit schaffen. Die Unterzeichnenden weisen daher die Theorie des „Sozialismus in einem Lande“ kategorisch zurück, die die Grundlagen des proletarischen Internationalismus selbst untergräbt.
3. Nicht weniger energisch muss die Theorie der Austromarxisten, Zentristen und Linksreformisten zurückgewiesen werden, die unter dem Vorwand des internationalen Charakters der sozialistischen Revolution eine abwartende Passivität in Bezug auf ihr eigenes Land rechtfertigen, und damit in Wirklichkeit das Proletariat dem Faschismus ausliefern. Eine proletarische Partei, die unter dem Vorwand geschichtlicher Bedingungen der Machteroberung ausweicht, begeht den schlimmsten Betrug. Das siegreiche Proletariat eines Landes muss seine nationale Diktatur durch den sozialistischen Aufbau stärken, der notwendig unvollständig und widersprüchlich bleibt, bis die Arbeiterklasse in wenigstens ein paar fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die politische Macht ergreift. Gleichzeitig muss die siegreiche Arbeiterklasse eines Landes alle seine Anstrengungen auf die Ausweitung der sozialistischen Revolution in andere Länder lenken. Der Widerspruch zwischen dem nationalen Charakter der Machtergreifung und dem internationalen Charakter der sozialistischen Gesellschaft kann nur durch mutige revolutionäre Tat aufgelöst werden.
4. Die Dritte Internationale, die aus der Oktoberrevolution hervorwuchs, die Prinzipien der proletarischen Politik in der Epoche des Imperialismus darlegte und dem Weltproletariat die ersten Lehren im revolutionären Machtkampf gab, fiel einer Kette geschichtlicher Widersprüche zum Opfer. Die verräterische Rolle der Sozialdemokratie und die Unreife und Unerfahrenheit der Kommunistischen Parteien führte zum Zusammenbruch der revolutionären Nachkriegsbewegungen in Ost und West. Die isolierte Stellung der proletarischen Diktatur in einem rückständigen Land gab der immer konservativeren und national beschränkten Sowjetbürokratie eine außerordentliche Macht. Die sklavische Abhängigkeit der Sektionen der Komintern gegenüber der Sowjetführung führten wiederum zu einer neuen Reihe schwerer Niederlagen, zur bürokratischen Entartung der Theorie und Praxis der Kommunistischen Parteien und ihrer organisatorischen Schwächung. Mehr als das, die Komintern erwies sich nicht nur als unfähig zur Erfüllung ihrer geschichtlichen Rolle, sondern wurde immer mehr ein Hindernis im Weg der revolutionären Bewegung.
5. Der Vormarsch des Faschismus in Deutschland unterwarf die Organisationen der Arbeiterklasse einem entscheidenden Test. Die Sozialdemokratie bestätigte einmal mehr die Bezeichnung, die ihr Rosa Luxemburg gegeben hatte, und enthüllte sich zum zweiten Mal als „stinkender Leichnam“. Die Überwindung der Organisationen, Ideen und Methoden des Reformismus ist die notwendige Voraussetzung für den Sieg der Arbeiterklasse über den Kapitalismus.
6. Die deutschen Ereignisse enthüllen mit nicht geringerer Kraft den Zusammenbruch der Dritten Internationale. Trotz ihrem vierzehnjährigen Bestehen, trotz der in gigantischen Schlachten gewonnenen Erfahrung, trotz der moralischen Unterstützung des Sowjetstaats und der umfangreichen Propagandamittel, enthüllte die Kommunistische Partei Deutschlands unter Bedingungen einer schweren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Krise, Bedingungen die für eine revolutionäre Partei außerordentlich günstig sind, eine vollständige revolutionäre Unfähigkeit. Sie hat dadurch abschließend gezeigt, dass sie trotz dem Heldentum vieler ihrer Mitglieder völlig unfähig geworden ist, ihre geschichtliche Rolle zu spielen
7. Die Lage des Weltkapitalismus; die schreckliche Krise, die die Arbeitermassen in unerhörtes Elend gestürzt hat; die revolutionäre Bewegung der unterdrückten kolonialen Massen; die Weltgefahr des Faschismus; die Perspektive eines neuen Zyklus von Kriegen, der die ganzen menschliche Kultur zu zerstören droht — dies sind die Bedingungen, die gebieterisch das Zusammenschweißen der proletarischen Vorhut in eine neue (Vierte) Internationale fordern. Die Unterzeichnenden verpflichten sich, alle ihre Kräfte auf die Bildung dieser Internationale in der kürzestmöglichen Zeit zu richten, auf der festen Grundlage der von Marx und Lenin niedergelegten theoretischen und strategischen Prinzipien.
8. Während sie bereit sind, mit allen Organisationen, Gruppen und Fraktionen zusammenzuarbeiten, die sich tatsächlich vom Reformismus oder bürokratischen Zentrismus (Stalinismus) hin zu revolutionärer marxistischer Politik entwickeln, erklären die Unterzeichnenden gleichzeitig, dass die neue Internationale kein Versöhnlertum gegenüber Reformismus und Zentrismus dulden kann. Die notwendige Einheit der Bewegung der Arbeiterklasse kann weder durch das Verwischen von revolutionären und reformistischen Konzepten noch durch die Anpassung an die stalinistische Bürokratie erreicht werden, sondern nur durch den Kampf gegen die Politik der beiden bankrotten Internationalen. Um ihrer Aufgabe gerecht zu bleiben, darf die neue Internationale keine Abweichung von revolutionären Prinzipien in der Frage des Aufstands, der proletarischen Diktatur des Sowjetform des Staats etc. erlauben
9. Durch ihre Klassenbasis, durch ihre sozialen Grundlagen, durch die unbestreitbar vorherrschenden Eigentumsformen bleibt die UdSSR selbst heute ein Arbeiterstaat, das heißt, ein Werkzeug für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Die neue Internationale wird sich als eine ihrer wichtigsten Aufgaben die Verteidigung des Sowjetstaats gegen den Imperialismus und innere Konterrevolution aufs Banner schreiben. Gerade die revolutionäre Verteidigung der Sowjetunion erlegt uns die gebieterische Aufgabe auf, die revolutionären Kräfte auf der ganzen Welt vom korrumpierenden Einfluss der stalinistischen Komintern zu befreien und eine neue Internationale aufzubauen. Nur unter den Bedingungen völliger Unabhängigkeit der nationalen proletarischen Organisationen von der Sowjetbürokratie und die unermüdliche Demaskierung ihrer falschen Methoden vor den Arbeitermassen ist eine erfolgreiche Verteidigung der Sowjetunion möglich.
10. Parteidemokratie ist eine notwendige Vorbedingung für die gesunde Entwicklung der revolutionären proletarischen Parteien auf nationaler ebenso wie internationaler Ebene. Ohne Freiheit der Kritik, ohne die Wahl der Funktionäre von oben bis unten, ohne die Kontrolle des Apparats durch die Basis ist keine wahrhaft revolutionäre Partei möglich.
Die Notwendigkeit der Geheimhaltung unter Bedingungen der Illegalität ändert die Formen des inneren Lebens einer revolutionären Partei völlig und macht weite Diskussionen und Wahlen schwierig, wenn nicht völlig unmöglich. Aber selbst unter den schwierigsten Bedingungen und Umständen behalten die Grundforderungen eines gesunden Parteiregimes ihre volle Kraft: Ehrliche Information über die Partei, Freiheit der Kritik und eine wirkliche innere Einheit zwischen der Führung und der Parteimehrheit. Nachdem sie den Willen der revolutionären ArbeiterInnen unterdrückt und zerschlagen hat, verwandelte die reformistische Bürokratie die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften in ohnmächtige Körperschaften, obwohl ihre Mitgliedschaft nach Millionen zählte. Nachdem sie die innere Demokratie erstickt hatte, erstickte die stalinistische Bürokratie auch die Komintern. Die neue Internationale und ebenso die ihr angehörenden Parteien müssen ihr gesamtes inneres Leben auf der Grundlage des Demokratischen Zentralismus aufbauen.
11. Die Unterzeichnenden schaffen eine ständige Kommission aus delegierten VertreterInnen und beauftragen sie mit folgendem:
a. ein programmatisches Manifest als Charta der neuen Internationale auszuarbeiten;
b. eine kritische Analyse der Organisationen und Tendenzen der heutigen Arbeiterbewegung vorzubereiten (theoretischer Kommentar zum Manifest);
c. Thesen zu allen grundlegenden Fragen der revolutionären Strategie des Proletariats auszuarbeiten;
d. die unterzeichnenden Organisationen vor den Augen der ganzen Welt zu vertreten
Unterzeichnet:
E. Bauer — Internationale Linke Opposition (Bolschewiki-LeninistInnen)
J. Schwab — SAP (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands)
P. J Schmidt — OSP (Unabhängige Sozialistische Partei Hollands)
H. Sneevliet — RSP (Revolutionäre Sozialistische Partei Hollands)