Leo Trotzki: Bürgerliche Demokratie und der Kampf gegen Faschismus

Im Februar 1934 fordern die französischen Arbeiter die Einheitsfront gegen den Faschismus

Die Frage des Verhaltens gegenüber den Regierungsmaßnahmen, die angeblich gegen den Faschismus gerichtet sein sollen, ist höchst wichtig.

Weil die bürgerliche Demokratie geschichtlich bankrott ist, ist sie nicht mehr imstande, sich auf dem eigenen Boden gegen die Feinde von rechts und links zu verteidigen. D.h.: Um sich zu »erhalten« muß sich das demokratische Regime durch Ausnahmegesetze und administrative Willkür immer mehr und mehr aufheben. Diese Selbstaufhebung der Demokratie im Kampf gegen rechts und links bringt eben den Verfallsbonapartismus zustande, der für seine unsichere Existenz ebenso der linken wie der rechten Gefahr bedarf, um sie gegeneinander auszuspielen und um sich immer höher über der Gesellschaft mit ihrem Parlamentarismus zu erheben. Die Regierung Colijns erschien mir schon seit längerer Zeit als potentieller Bonapartismus.

Der Hauptfeind für den Bonapartismus in dieser höchst kritischen Epoche bleibt natürlich der revolutionäre Flügel des Proletariats. Man kann daher mit absoluter Sicherheit sagen, daß bei der weiteren Verschärfung des Klassenkampfes alle Ausnahmegesetze, alle außerordentlichen Vollmachten usw gegen das Proletariat ausgespielt werden.

Nachdem die französischen Stalinisten und Sozialisten für die administrative Auflösung paramilitärischer Organisationen gestimmt hatten, schreibt der alte Schuft Marcel Cachin in der Humanité ungefähr folgendermaßen: »Ein großer Sieg … natürlich wissen wir, daß in der kapitalistischen Gesellschaft alle Gesetze gegen das Proletariat ausgenützt werden können. Wir werden aber trachten, das zu verhindern … usw.« Die Lüge besteht hier im Worte »können«. Es müßte gesagt werden: »Wir wissen, daß alle diese Maßnahmen bei der weiteren Verschärfung der sozialen Krise mit zehnfacher Kraft gegen das Proletariat angewendet werden.« Daraus ist die elementare Schlußfolgerung zu ziehen: Wir können den Verfallsbonapartismus nicht mit eigenen Händen aufbauen helfen und ihn mit Ketten versehen, die er unvermeidlich der proletarischen Avantgarde anlegen wird.

Damit soll nicht gesagt werden, daß sich Colijn nicht für morgen und übermorgen den rechten Ellbogen von der übermäßigen faschistischen Arroganz freimachen möchte. Die soziale Revolution scheint in Holland nicht unmittelbar drohend zu sein. Das Großkapital hofft, mit den Mitteln des starken, konzentrierten, d.h. des halbbonapartistischen oder bonapartistischen Staates mit den drohenden Gefahren fertig zu werden. Um aber den wirklichen Feind, daß revolutionäre Proletariat, nicht in den Himmel wachsen zu lassen, kann und wird Colijn den Faschismus niemals kaltstellen oder gar ausrotten; er wird ihn höchstens in Schach halten. Daher ist die Losung, Auflösung und Entwaffnung der faschistischen Banden durch den Staat (die deutschen Sozialdemokraten schrien: »Staat greif zu!«) und das Abstimmen für ähnliche Maßnahmen durch und durch reaktionär. Das hieße, aus der Haut des Proletariates eine Peitsche machen, mit der vielleicht der bonapartistische Schiedsrichter ganz milde und hie und da einmal den faschistischen Hintern streicheln wird. Unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit aber ist es, nicht dem Faschismus die Peitsche zu liefern, sondern die Haut der Arbeiterklasse zu schützen.

Eine andere Seite derselben Lage scheint noch wichtiger zu sein. Die bürgerliche Demokratie ist ihrem Wesen nach fiktiv. Je blühender sie ist, desto weniger läßt sie sich durch das Proletariat ausnützen (siehe die Geschichte Englands und der Vereinigten Staaten). Die Dialektik der Geschichte will es, daß die bürgerliche Demokratie für das Proletariat gerade in der Zeit ihrer Zersetzung zu einer wichtigen Realität werden kann. Der Faschismus ist der äußere Ausdruck dieser Zersetzung. Der Kampf gegen den Faschismus, die Verteidigung der erworbenen Positionen der Arbeiterklasse im Rahmen der sich zersetzenden Demokratie kann zu einer mächtigen Realität werden, indem der Arbeiterklasse die Möglichkeit gegeben wird, sich zum schärfsten Kampfe vorzubereiten und zu bewaffnen. Die letzten zwei Jahre in Frankreich nach dem 6. Februar 1934 gaben den Arbeiterorganisationen die ausgezeichnete, die vielleicht nicht so bald wiederkehrende Möglichkeit das Proletariat und das Kleinbürgertum revolutionär zu sammeln, eine Arbeitermiliz zu schaffen usw. Diese kostbare Möglichkeit wird eben durch die Zersetzung der Demokratie gegeben; durch ihre offenkundige Unfähigkeit, die »Ordnung« mit den alten Mitteln zu bewahren und durch die ebenso offenkundige Gefahr, die die Arbeitermassen bedroht. Wer diese Situation nicht ausnützt, wer an den »Staat«, d.h. an den Klassenfeind appelliert mit der Bitte »Greif zu!« der verkauft eben die Haut des Proletariats an die bonapartistische Reaktion.

Daher müssen wir gegen alle Maßnahmen abstimmen, die den kapitalistisch-bonapartistischen Staat verstärken, auch wenn es um eine Maßnahme geht, die momentan dem Faschismus eine vorübergehende Unannehmlichkeit bereiten kann. Selbstverständlich werden die Sozialdemokraten und Stalinisten sagen, wir verteidigen den Faschismus gegen den Vater Colijn, der doch besser sei als der böse Mussert2. Nun können wir jetzt schon mit Sicherheit erklären, daß wir weitsichtiger als die andern sind und daß die weiteren Ereignisse unsere Warnungen und unsere Aufforderungen vollständig bekräftigen werden.

Wir können aber auch gewisse Zusatz- und Abänderungsvorschläge formulieren, deren Ablehnung es jedem Arbeiter klar machen werden, daß es sich nicht um den faschistischen Hintern, sondern um die proletarische Haut handelt. Beispielsweise: 1. Die Streikposten der Arbeiter werden durch dieses Gesetz keinesfalls berührt, auch wenn sie gegen Streikbrecher, Faschisten und andere Lumpen auftreten müssen. 2. Die gewerkschaftlichen und politischen Organisation der Arbeiterklasse bewahren das Recht, angesichts der faschistischen Gefahr ihre Schutzorganisationen auszubauen und zu bewaffnen. Auf ihre Anforderung ist der Staat verpflichtet, ihnen mit Finanzmitteln, mit Waffen und Munition zu helfen.»

Im Parlament würden diese Anträge ziemlich sonderbar klingen und von den Herren Staatsmännern (auch von den stalinistischen Wichtigtuern) für »shocking« angesehen werden. Aber jeder Durchschnittsarbeiter nicht nur im NAS3, sondern auch in den reformistischen Gewerkschaften wird sie ganz gerechtfertigt finden. Ich führe diese Zusatzanträge natürlich nur als Beispiele an. Man könnte vielleicht bessere und genauere Formulierungen finden. Sollen dann die Herren Sozialdemokraten und Stalinisten ihre Unterstützung verweigern oder sogar dagegen stimmen? Wenn sie aber auch dafür stimmen, werden die Anträge ohnedies abgelehnt werden, und dann ist es absolut klar, warum wir gegen die Regierungsvorlage im Ganzen stimmen, und dies müssen wir tun ohne das geringste Bedenken, aus den Gründen, die oben angeführt sind (auch gesetzt den Fall, daß der colijnisierte Parlamentarismus das Einbringen der Zusatzanträge nicht zulasse, denn diese Zusatzanträge beziehen sich nur auf die propagandistische Technik, nicht aber auf das Wesen der Sache selbst).

Wir müssen überhaupt sehr scharf gegen die abstrakte »antifaschistische« Denkweise vorgehen, die manchmal selbst unter unseren eigenen Genossen leider Eingang findet. »Antifaschismus« ist nichts, ein leerer Begriff, um die stalinistischen Schurkereien zu decken. Im Namen des »Antifaschismus« hat man die Klassengemeinschaft mit den Radikalen4 ins Leben gerufen. Manche Genossen bei uns wollten die »Volksfront«, d.h. die Klassengemeinschaft positiv unterstützen, so wie wir etwa die Einheitsfront, d.h. die Absonderung des Proletariats von den anderen Klassen zu unterstützen bereit sind. Von der durch und durch falschen Losung »Die Volksfront an die Macht« geht man im Namen des »Antifaschismus« noch weiter und erklärt sich geneigt, den Bonapartismus zu unterstützen, denn die Abstimmung für die »antifaschistische« Gesetzesvorlage Colijns würde nichts anderes als die direkte Unterstützung des Bonapartismus bedeuten.

  1. Januar 1936